Der Herr der Unruhe
Der Kunde senkte die Stimme. »Ich bin ja, wie Sie wissen, im Bauamt tätig, und da bekommt man so einiges mit. Sie errichten seit letzten Monat in einem Steinbruch im Bezirk Perg ein Lager. Mauthausen ist als Außenstelle für Dachau gedacht.«
Nico entsann sich des Prominententransports vom April und murmelte: »Das Unheil rückt näher.«
Der letzte Kunde nickte traurig. »Eine Schande, was da passiert. Ich wünsche Ihnen und den Mezeis eine gute Reise. Sagen Sie dem alten Johan und seiner Frau, dass ich sie vermissen werde.«
»Das mache ich. Ihnen auch alles Gute, und was Ihre Uhr an-belangt: Es geht ihr jetzt wieder prächtig. Sie wird Ihnen sicher noch lange die Stunde schlagen.«
Nachdem der letzte Kunde gegangen war, löschte Nico das
Licht und ließ noch einmal den Blick durch die leer geräumten Räume schweifen. Im von draußen durchs Schaufenster fallenden Schimmer der Straßenlaterne erschienen sie noch trostloser als bei Tage. Sosehr er sich die Rückkehr nach Nettuno gewünscht hatte, jetzt überkam ihn doch die Wehmut. Ein Weinhändler mit makellosem Ariernachweis hatte das Geschäft gekauft. Nico seufzte. Es war so kahl, und das muntere Ticken der Uhren fehlte ihm schon jetzt. Nie mehr würde es hier so sein wie früher. Traurig schloss er den Laden ab.
Die Stufen zur Wohnung hinauf nahm er bedächtig, so als
wolle er jede ein letztes Mal zählen. Die Mezeis packten gerade noch ein paar Habseligkeiten zusammen. Einiges hatten sie schon vor Tagen mit der Bahn vorausgeschickt. Die meisten Möbel übernahm der Weinhändler. Lea befand sich in keiner guten Ver-fassung. Wer dreiunddreißig Jahre an einem Ort gelebt hatte, der ließ sich nicht gerne vertreiben.
252
Johan köpfte eine Flasche Marillenlikör, um die trübe Stimmung zu verscheuchen. Schleppend kam ein Gespräch in Gang.
Bald beschwor das süße Gesöff allerlei Erinnerungen herauf, viele schöne, aber auch traurige.
Zu vorgerückter Stunde drang plötzlich Lärm von der Straße hinauf.
Lea reagierte zuerst. Ihr Kopf ruckte hoch »Hört ihr das?«
Der Meister und sein Geselle lauschten. »Hoffentlich ist es nicht das, was ich befürchte«, flüsterte Nico.
Johan sah ihn erschrocken an. »Du glaubst doch nicht …?«
Der Junge nickte. »Der wilde Kommissar, der aussah wie eine Reitpeitsche, hatte versprochen wiederzukommen. Besser, wir machen das Licht aus.«
Im Nu waren die drei auf den Beinen. Nico sprang zur Tür und schaltete die Wohnzimmerlampe aus. Dann gesellte er sich zu den anderen beiden, die schon bei den Fenstern waren. Die Flügel wurden aufgerissen, und man beugte sich hinaus. Augenblicklich schwoll der Lärm zu vielfacher Lautstärke an. Wieder das Gejohle, einige sangen »Die Fahne hoch …«. Aber auch andere Geräusche, die sie zuvor nicht vernommen hatten, drangen nun an ihr Ohr. Der Wind führte das Klirren zerspringender Scheiben mit sich. Offenbar wütete der Pöbel auch im übrigen Bezirk, wo-möglich in der ganzen Stadt. Oder sogar bis zum äußersten Zipfel des Reiches …?
»Beim Ewigen!«, jammerte Lea. »Sie haben wieder Knüppel
und Fackeln. Und dabei sind sie noch so jung! Wer stiftet Kinder nur zu solchen Untaten an?«
»Eher Halbwüchsige. Einige Braunhemden von der SA sind
auch dabei«, knurrte Johan. Er legte seinem Gesellen die Hand auf die Schulter. »Heute keine Dummheiten, Niklas! Da unten gibt es für sie sowieso nichts mehr zu holen.«
Der Mob kam näher. Jetzt skandierte er wieder sein »Juda verrecke!«. Lea deutete über die Dächer hinweg zum Himmel. »Seht ihr das Flackern da drüben? Da brennt irgendetwas.«
Ihr Mann riss die Augen auf. »Das kann doch nicht …«
253
»Woran denkst du?«
»In der Richtung liegt unsere Synagoge.«
»Du meinst, sie haben sie in Brand gesteckt?«
Ein lautes Klirren schreckte die drei auf. Der Mob hatte einen Pflasterstein ins Schaufenster des Uhrenladens geworfen. Und dann sah Nico ihn: die Reitpeitsche. Auch der Fleischberg namens Horst war wieder mit von der Partie. Der Blick des Dünnen wanderte nach oben. Hatte er die drei Gesichter an den Fenstern schon entdeckt?
»Köpfe zurück!«, rief Nico.
Reflexartig reagierten Johan und Lea.
»Steckt endlich den Laden in Brand«, nörgelte unten der
Dünne.
Unvermittelt keilte eine andere Stimme dazwischen. »Untersteht euch! Ihr werdet das ganze Haus abfackeln.«
»Das Auge?«, raunte Lea.
Nico nickte. »Hört sich ganz so an.«
»Ist doch nicht meine Schuld, wenn ihr mit Judenschweinen
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