Der Herr der Unruhe
kurz fassen: Verschieße nicht dein ganzes Pulver gleich am ersten Tag.«
»W-was …?«
»Du hast einige sehr wertvolle Beweisstücke im Haus des
Podestà von Nettunia in deinen Besitz gebracht. Um Manzini verhaften zu lassen, brauchst du nur einige davon. Du kannst immer noch andere nachschieben, wenn er erst hinter Schloss und Riegel sitzt. Wähle deine Waffen also mit Bedacht.«
»Und womit soll ich gegen ihn zu Felde ziehen? Empfiehlst du mir das Schwert, oder soll ich doch besser die Armbrust nehmen?«
Lorenzo erwiderte den trotzigen Blick des jungen Mannes
gleichmütig. »Letzteres. Es ermöglicht dir, aus größerer Distanz auf ihn zu zielen.«
Bereits am nächsten Tag betrat Nico, unter dem Arm das Auftragsbuch seines Vaters, den monumentalen Palazzo di Giustizia am linken Tiberufer. Ein Pförtner, ein schnurrbärtiger Zwerg mit Brille in fortgeschrittenem Alter, hinderte ihn am Eindringen.
»Was wünschen Sie, Signore?«
»Bitte melden Sie mich der Procura del Re .«
»Wozu? Haben Sie etwas verbrochen?«
»Ich möchte jemanden anzeigen.«
»Das wollen alle.«
»Es ist dringend.«
»Dann gehen Sie zur Polizei.«
»Es handelt sich um einen Mörder.«
»Was Sie nicht sagen! Umso wichtiger, dass die Polizei davon erfährt.«
»Der Täter ist außerdem Podestà einer nicht unbedeutenden Stadt in Latium.«
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Der Pförtner lächelte müde. »Sind nicht alle Politiker in diesem Land Gauner?«
»Er hat meinen Vater umgebracht. Ich bin Augenzeuge. Wür-
den Sie so leichtfertig darüber hinweggehen, wenn Ihr Vater von einem Stadtoberhaupt erstochen worden wäre?«
»Mein Vater ist lange tot.«
Nico ließ die Kladde vor dem Pförtner flach auf den Tresen knallen. »Verdammt noch mal! Wenn Sie keine Lust zum Arbeiten haben, dann soll mir das egal sein, aber in diesem Fall machen Sie sich mitschuldig, wenn Sie mich nicht zur Staatsanwaltschaft durchlassen.«
Normalerweise genügte ein geringerer Ausbruch, um bei einem Staatsdiener auf Lebenszeit in Ungnade zu fallen. Aus irgendeinem Grund hatte Nico mit seinem forschen Auftreten jedoch den Pförtner aufgescheucht. Der Mann griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Ein paar hastige Sätze wurden in den Hörer gestoßen, und wenig später gab der garstige Zwerg die Zimmernummer preis, die den Bürger zu einem hörenden Ohr leiten würde.
Da man ohnehin gerade dabei war, den faschistischen Schlamm aus den Amtsstuben zu spülen, wurde Nicos Anzeige mit großem Interesse aufgenommen. So erklärte sich jedenfalls ein jüngerer, trotz allem etwas steif wirkender Beamter in tadellosem schwarzen Anzug, der nicht nur seine Haare ständig nach hinten strich, sondern in gleicher Weise am liebsten sofort die ganze schwarze Vergangenheit der letzten einundzwanzig Jahre aus dem Blickfeld geräumt hätte. Zumindest gab er sich den Anschein, Marschall Badoghos neuen Kurs entscheidend mitgestalten zu wollen.
»Der Name Massimiliano Manzini ist im Justizpalast nicht
unbekannt«, gestand Signor Vittorio Abbado, der sich als »rechte Hand des in solchen Fällen ermittelnden Staatsanwalts« zu erkennen gab.
Klar, ihr habt ja schon einmal meine Zeugenaussage in euren Schubladen verschwinden lassen. Nico legte ein in braunes Leder gebundenes Buch vor dem Beamten auf den Tisch und lächelte.
»Das wundert mich nicht. Ich habe Ihnen hier etwas mitgebracht, 279
zu dem ich Ihnen gerne eine Geschichte erzählen möchte. Ihnen mag sie aufregend erscheinen, aber für mich ist sie die traurigste die ich je erlebt habe.«
Die Carabinieri drangen am Mittwoch, den 8. September 1943
gegen acht Uhr früh in den Palazzo Manzini ein. Alle Ausgänge waren von den Polizisten besetzt, ein Entkommen somit ausge-schlossen. Unter der zum italienischen Heer gehörenden Einheit befand sich auch ein bärtiger Zivilist, der einen Hut mit Krempe, einen langen grüngrauen Regenmantel und eine dunkle Sonnenbrille trug. Das Personal hielt ihn für den commissario, obwohl er sich für einen Ermittlungsbeamten eher untypisch verhielt.
Während der ganze Razzia behielt er seine Hände in den Mantel-taschen vergraben und sprach zudem kein einziges Wort.
Nico glaubte die Besinnung verlieren zu müssen, als plötzlich Laura vor ihm stand. In den verflossenen drei Jahren war sie noch schöner geworden, aber er hatte ihr Gesicht auch noch nie so ernst gesehen. Ihre Augen waren zwei dunkle Brunnenschächte, aus denen nur noch Schwermut und Verzweiflung geschöpft
werden konnte. Trotzdem
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