Der Herr der Unruhe
flüsterte: »Komm mein Alter, dein kleiner Freund ist wieder da.«
Ein kratzendes Geräusch kam aus der Tür. Beim zweiten Versuch, sie zu öffnen, leistete sie keinen Wiederstand mehr.
Mit wachsweichen Knien betrat Nico den Flur. Er glaubte
noch die Stelle zu erkennen, wo er sich als Zeuge einer Eruption von Gewalt in die Hosen gemacht hatte. Die Tür der Werkstatt war – wie damals – nur angelehnt. Mit ausgestrecktem Arm
drückte er sie auf. Er musste sich am Türrahmen festklammern, weil er fürchtete andernfalls zusammenzubrechen.
Der Blutfleck auf den Dielen war noch deutlich auszumachen, verblasst zwar, aber Nicos Gedächtnis frischte die rote Farbe auf.
In der Werkstatt herrschte ein heilloses Durcheinander. Bis auf zwei Wanduhren, die von einer dicken Staubschicht bedeckt zerbrochen am Boden lagen, fehlten alle anderen. Offenbar hatten Manzini und seine Helfershelfer einen gewöhnlichen Raubmord vortäuschen wollen. Regale waren von den Wänden gerissen, der Arbeitstisch und die Stühle umgeworfen. Alles weniger Wertvolle lag wie achtlos fallen gelassen ebenfalls auf den Dielen herum.
Ganz hinten an der Wand sah Nico ein rotes Buch liegen. Er erkannte es sofort wieder. Rasch hob er es auf und pustete die Staubschicht fort. Der papierene Teil des Halbledereinbands sah aus wie Marmor. Er klappte es auf. Das Titelblatt war in schwarzer und roter Farbe gehalten.
DANTE ALIGHIERI
LA DIVINA COMMEDIA
285
»Die Göttliche Komödie.« Sein Atem vermochte die Worte kaum über die Lippen zu heben. Eine kleine Zeile aus diesem Buch hatte seinen Vater das Leben gekostet. Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht. Welches Geheimnis bargen diese Worte?
Was hatte Manzinis Jähzorn heraufbeschworen?
Nico schlug das Buch wieder zu. Er würde es mitnehmen, nicht allein um das darin verborgene Rätsel zu lösen, sondern noch aus einem anderen Grund.
Ein letztes Mal ließ er den Blick durch die Werkstatt schweifen, dann kehrte er auf den Flur zurück. Obwohl seine Kraft fast schon erschöpft war, stieg er trotzdem die Treppe empor, um die anderen Räume des Hauses zu untersuchen. Überall bot sich ihm dasselbe trostlose Bild der Verwüstung. Manzinis Leute hatten ganze Arbeit getan. Nico wusste nicht, was er sich von diesem Besuch erwartet hatte. Ein weiteres Indiz vielleicht, das auf den Mörder hindeutete, oder eine innere Befreiung, die ihn endlich frei atmen ließ – er fühlte sich enttäuscht, deprimiert, unglücklicher denn je.
Mit dem Buch unterm Arm verließ er das Haus, in dem er sein halbes Leben zugebracht hatte, und er wusste, es würde ihm nie wieder ein Zuhause sein können. Nachdem er das plumpe Schloss überredet hatte, die Tür wieder zu verriegeln, lief er durch die schmale Via del Baluardo und über die Piazza Vittorio Emanuele III. zu dem Wandelgang, der an der Seeseite die alte Stadtmauer säumte. Er ließ die Altstadt hinter sich, lief am Forte Sangallo vorbei und suchte sich eine kleine Bar, von der aus man die Leute am Strand beobachten konnte. Es war erst Anfang September, der Sommer hier hatte gewöhnlich einen langen Atem. Trotzdem rä-
kelten sich nur wenige Leute in der Sonne. Vielleicht war es noch zu früh.
Auf der Straße vor der Bar standen sieben oder acht runde Tische. Nico ließ sich müde in einen Stuhl fallen, zog sich einen zweiten heran, auf den er das rote Buch legte, nahm die Sonnenbrille ab und massierte sich die Nase. Ein hemdsärmeliger Ober 286
fragte ihn nach seinen Wünschen. Was er tatsächlich wollte, würde der schnurbärtige Mann ihm wohl nicht erfüllen können, also bestellte er sich einen doppelten Grappa.
Sobald er sich wieder allein überlassen war, begannen seine Gedanken erneut zu kreisen. Glaubst du, du wirst jetzt endlich Frieden finden? Nein, schon jetzt, weniger als eine Stunde nach Manzinis Verhaftung wusste er, dass diese Hoffnung sich nicht erfüllen würde. Möglicherweise endete das Leben seines Widersachers im Angesicht des Henkers, aber sein eigenes würde bis zuletzt am Verlust des einzigen Mädchens leiden, das er je geliebt hatte.
In seinem desolaten Zustand bemerkte Nico nicht einmal die gedrückte Stimmung, die auch unter den drei oder vier übrigen Gästen an den benachbarten Tischen herrschte. Plötzlich fiel eine schwere Hand auf seine Schulter, und er schrie vor Schreck auf.
»Ruhig Blut, amico mio «, sagte eine ihm nur allzu bekannte Stimme. Nico drehte den Kopf und riss die Augen auf. Hinter ihm stand ein junger
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