Der Herr der Unruhe
Mann mit breiter Nase und dunklem Vollbart, den er trotzdem sofort wiedererkannte.
»Bruno, musst du dich so anschleichen!«
»Pscht!«, machte der und grinste. Während er sich einen Stuhl heranzog und sich darauf setzte, flüsterte er: »In den letzten Monaten habe ich das Pirschen gelernt. Du hast dich verändert, aber der Bart steht dir.«
»Dito. Heute kam ich mir allerdings so vor, als existiere er überhaupt nicht. Alle haben mich wiedererkannt.«
»Vielleicht bildest du dir das nur ein. Mir ging’s genauso, wenn mich mal einer länger als zwei Sekunden angeglotzt hat. Aber ich hatte allen Grund, mein Äußeres zu verändern. Bis zu Mussolinis Abgang kam ich mir vor wie ein Phantom.«
»Selber schuld, wenn du bei der Giustizia e Libertà mit-
mischst.«
»Soll ich etwa mitmachen, wenn die Schwarzhemden ihre Lieder grölen, so wie …?«
»Nimm dich in Acht, was du sagst. Du weißt, dass ich weder 287
bei der Hitlerjugend war noch mit den Faschisten marschiert bin.
Haust du eigentlich immer noch unter dem Torre Astura?«
Bruno gab dem Ober einen Wink und bestellte sich einen
Cappuccino. Anschließend sagte er: »Im Torre herrscht gerade mal wieder Betrieb. Hab ein paar Nächte in den Höhlen unter der Nero-Villa zugebracht. Zuletzt war ich bei der Gruppe südlich von Nettunia?«
»Etwa in den Sümpfen?«
»Das ist geheim.«
»Verstehe. Du traust mir nicht mehr.«
»Ich kann schlecht von meinen Leuten verlangen, die Klappe zu halten, und mich selbst darüber hinwegsetzen. Wie steht’s mit dir? Ist der Bart Mode oder Maske?«
»Ich hatte Letzteres gehofft.« Nico verzog das Gesicht.
»Ha! Du darfst nicht von deinem ältesten Freund auf die Allge-meinheit schließen. Die Leute sind so was von oberflächlich! Ich kam mir anfangs auch so vor, als würde ich ein Schild mit meinem Namen um den Hals tragen, aber tatsächlich hat kaum einer von mir Notiz genommen. Du sagtest, alle hätten dich erkannt. Wen meinst du damit?«
»Donna Genovefa, unseren geschassten Podestà und … Laura.«
Nicos Magen verkrampfte sich sofort wieder.
»Sag bloß, du warst im Palazzo Manzini?«
Er nickte. »Mit einem Heer von Carabinieri. Das ehemalige Stadtoberhaupt von Nettunia sitzt jetzt hinter Gittern.«
»Und das hast du angeleiert?«
»Allerdings. Mit einem Fingerabdruck von Don Massimilianos Daumen. Er hat ihn mit dem Blut meines Vaters in unser Auftragsbuch gestempelt.«
Bruno pfiff durch die Zähne. »Was ist mit Laura? Wie hat sie darauf reagiert?«
»Sie hasst mich dafür.«
Der Sohn des Kunstmalers starrte vor sich hin. Nach einer Weile begann sein Kopf sacht zu wippen. »Auf ihre Art kann ich sie sogar verstehen.«
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»Dann besitzt du mehr Einfühlungsvermögen in ihre Seele als ich.«
»Kann sein.«
Nico sah seinen Freund scharf an.
Bruno breitete die Hände aus. »Immer noch eifersüchtig? Ich bin ein Künstler. Da hat man mehr Gespür für die Gefühle der Frauen, als wenn man Mechaniker ist.«
»Uhrmacher.«
»Ja, ich weiß: Der Leblosen Liebling. Durch den Körper eines Mädchens fließt aber Blut, mein Freund, richtiges, rotes, warmes Blut. Solltest du dir mal hinter die Ohren schreiben, fürs nächste Mal.«
»Es wird kein nächstes Mal geben.«
»Bist du dir sicher?«
Nico antwortete nicht.
»Was wirst du jetzt tun?«
»Vor Gericht als Zeuge auftreten.«
»Glaubst du allen Ernstes, dass es dazu kommt?«
»Diesmal ja. Mussolinis Regime ist Vergangenheit. Die Fa-
schisten werden überall aus den Ämtern gejagt. Manzini steht allein auf weiter Flur.«
»Hängt davon ab, wer schneller ist, würde ich sagen.«
Nico blinzelte verwirrt. »Wer soll schneller sein als wer?«
»Die Amerikaner als die Deutschen.« Bruno stutzte. »Hat es dir etwa noch niemand gesagt?«
Erst jetzt fielen Nico die düsteren Mienen an den Nachbar-tischen auf. »Ich bin heute noch vor dem Aufstehen von Rom hier herübergefahren. Möglicherweise ist mir da irgendetwas entgangen.«
»Kann man wohl sagen. Das Radio meldet, dass der König
nach Brindisi ausgebüchst ist, und unser Regierungschef hat sich ihm gleich angeschlossen.«
»Marschall Badoglio? Aber vor wem?«
»Na, vor der Wehrmacht. Die Deutschen sind heute in Tirol einmarschiert und dringen schnell nach Süden vor. Wenn sie in 289
dem Tempo weitermachen, heißt es übermorgen in Rom: ›Hitler ante portas.‹ «
Nicht Adolf Hitler persönlich gab sich am 10. September 1943
»vor den Toren« Roms die Ehre, er ließ sich von seinem Heer
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