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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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gefiel ihm nicht. War er zu unvorsichtig gewesen, als er vom Ghetto aus nach Trastevere fuhr? Hatte man ihn verfolgt? Oder fing er nach der Aufregung der letzten Tage schon an, Gespenster zu sehen? Er stand wieder auf, schob seine Fens-terglasbrille auf der Nase zurecht, zog sich seine Schiebermütze tiefer ins Gesicht und wechselte auf den gegenüber liegenden Gehweg, um sich den Wagen genauer anzusehen.
    Es war ein Alfa Romeo 6C 2300 turismo, eine geschlossene, schwere, viertürige Limousine mit Trittbrettern, hoher schmaler Motorhaube, verchromten Scheinwerfern und kleinen Fenstern.
    Nico summte ein fröhliches Liedchen vor sich hin und schlen-derte nun direkt auf das Fahrzeug zu. Dabei vermied er es, das bleiche Antlitz hinter der Windschutzscheibe direkt anzuschauen.
    Gleichwohl bemerkte er die Hasenscharte im auffallend schmalen Gesicht des ungefähr dreißigjährigen Mannes. Spielerisch ließ Nico seine Fingerspitzen über die lang gestreckte Motorhaube gleiten, als bewundere er die wie aus Stein gemeißelte Form des Alfa. Der Spitzel drinnen konnte ja nicht ahnen, dass der neugierige Bursche draußen mit seinem Wagen »sprach«.
    Das Fahrzeug stand seit ungefähr einer Stunde an diesem
    Fleck. Es hatte zwei Männer in die Via Dandolo befördert. Und es war die ewige Treiberei durch seine beiden Schinder satt. Nico machte dem schwarzen Geschöpf Mut. Dann lösten sich seine Fingerkuppen von dem warmen Blech, rissen förmlich davon ab, und er setzte seinen Weg fort.
    An der nächsten Straßenbiegung begann er zu laufen. Johan und Lea waren in großer Gefahr. Er umrundete den Block und kehrte durch ein anderes Gebäude auf die Rückseite des verwahr-losten Hauses zurück. Schon beim Einzug seiner Zieheltern hatte 318
    er die Fluchtmöglichkeiten ausgekundschaftet. Jetzt machte sich diese Vorsichtsmaßnahme bezahlt.
    Auf sein lautes Klopfen reagierte hinter der Kellertür eine ängstliche Stimme.
    »Wer ist da?« Es war Lea.
    »Ich bin’s, Nico. Macht schnell auf.«
    Die Kette des Vorhängeschlosses rasselte, dann schwang die Tür quietschend auf. Lea sah ihrem Ziehsohn sofort an, dass etwas nicht stimmte.
    »Was ist passiert?«
    »Draußen lungern zwei Spitzel herum. Sie beobachten das
    Haus. Ihr müsst fort! Jetzt gleich! Es geht um Leben und Tod!«

    Er fühlte sich elend, als er am nächsten Morgen nach Nettunia zu-rückfuhr. Nico hatte in der letzten Nacht, wenn es hoch kam, eine Stunde geschlafen. Mit Johan und Lea war er nach Sant’Angelo gelaufen, um sich mit Davide zu beraten. Um nicht aufzufallen, hatten sie nur die allerwichtigsten Habseligkeiten mitgenommen.
    Das meiste davon schleppte allerdings Nico, weil Johan nach seinem Lageraufenthalt nie mehr richtig zu Kräften gekommen war.
    Die beiden Spitzel ließen sich an diesem Abend nicht mehr blicken. Vermutlich hatten sie sich bei der Wachablösung über ihren Alfa Romeo gewundert, weil er sich trotzig jedem Startversuch verweigert haben dürfte.
    Nico brachte seine beiden Zieheltern in die Trattoria, deren Schaufensterauslagen er vor vielen Jahren einmal mit den Augen verschlungen hatte. Die Wirtin war immer noch dieselbe. Allein begab er sich zu jenem namenlosen Platz, an dem Davide und Salomia Ticiani wohnten. Keine Menschenseele war zu sehen. Aber wer konnte schon sagen, ob nicht auch hier irgendwo Spitzel hinter den Fenstern lauerten. Schnell huschte er in das Haus, hinauf zu seinen beiden Freunden.
    Wenig später saßen die fünf Leidensgenossen um einen Tisch, aßen Carciofi alla Giudecca und tranken Rotwein. Davide hatte einen Nachbarsjungen zu Israel Zolli geschickt, der sich wenig 319
    später zu ihnen gesellte. Der Professor war inzwischen mit seiner Familie bei Doktor Fiorentino untergeschlüpft und riet den Ge-fährten dringend, seinem Beispiel zu folgen. Um Johan und Lea für die ersten Tage unterzubringen, vermittelte er ihnen ein Quartier bei einem anderen Freund namens Pierantoni – zum Glück verfügte der weltoffene Zolli über einen großen nichtjüdischen Bekanntenkreis.
    Die Ältesten der Gemeinde glaubten sich mit dem Gold die
    Freiheit erkauft zu haben, aber unter Nico und seinen Gefährten herrschte, als um Mitternacht das Jahr 5704 nach jüdischer Zeit-rechnung anbrach, eine gedrückte Stimmung. Natürlich hofften alle, die Übergabe der Schutzgeldzahlung würde den Juden eine Atempause verschaffen.
    Fragezeichen. In Nicos Kopf waren nichts als Fragezeichen, als er auf Nebenstrecken ohne Scheinwerferlicht in der Dämmerung

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