Der Herr der Unruhe
nach Süden brauste – er wollte die deutschen Posten nicht unnötig stören. Etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang traf er bei dem Landwirt ein, der ihm schon einmal geholfen hatte.
»Kann ich ein oder zwei Nächte bei dir schlafen, Domenico?«
Der Bauer grinste. »Kein Problem. Willst du im Kuhstall
übernachten, oder soll Gisella deinen Strohsack wieder auf den Heuboden schaffen?«
Er wählte Option Nummer zwei und ließ sich von Domeni-
cos Frau gerne etwas Brot, Käse und Wasser aufdrängen. Danach schwang er sich wieder in Albinos Sattel und fuhr weiter nach Süden.
Die Pontinischen Sümpfe hatten schon fast wieder ihr altes Aussehen angenommen. Nico wünschte, er hätte sich mit dem stinkenden Hausmittel von Signora Tortora eingerieben – die Moskitos feierten Hochzeit und waren, wie bei solchen Anlässen üblich, ziemlich durstig. Am späten Vormittag fand er die Soldatenwitwe, die er kürzlich schon einmal um Hilfe gebeten hatte.
»Konnten Sie Kontakt zur Resistenza aufnehmen, Signora
Fiori?«
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Die Frau kniete in einem kleinen Gemüsebeet vor ihrem Haus, das noch nicht überschwemmt worden war. Ohne aufzublicken, antwortete sie: »Ihre Nachricht hat den Empfänger erreicht. Er sagte, Sie sollen sich an den gebrochenen Pflug wenden.«
Nico lächelte. »Danke. Sie haben mir sehr geholfen.«
Nachdem er den wohlwollenden Bauern in Aprilia noch ein-
mal erfolgreich um eine Benzinspende gebeten hatte, machte er sich auf den Weg zur Küste. Um die Mittagszeit erreichte er unbehelligt das Feld beim Torre Astura. Der gebrochene Pflug.
Er musste Bruno bei ihrem letzten Treffen hier aufgefallen sein.
Nico legte beide Hände auf das rostige Metall. Er konnte immer noch die Spannungen spüren, die von der Plackerei unter einem unbarmherzigen Besitzer stammten und die dem Arbeitsgerät irgendwann das Rückgrat gebrochen hatten. Ob der Bauer inzwischen verstorben war?
Endlich fühlte Nico, wonach er gesucht hatte: eine Spur seines Freundes. Er bückte sich, wühlte unter einer der Pflugscharen im Boden und förderte schließlich eine Flasche zu Tage. Darin befand sich ein Zettel. Schnell zog er den Korken heraus und ließ die Nachricht in seine Hand gleiten. Brunos Schrift war so ebenmäßig wie eh und je.
Späher vom Forte Sangallo!
Ich habe deine Mitteilung erhalten. Hinterlasse an gleicher Stelle eine Antwort, wann wir uns am Torre treffen können.
Aber sei vorsichtig! Die Banda Koch und die Deutschen haben zur Treibjagd auf uns geblasen.
Dein Freund
Wie oft würden Bruno oder seine Mitkämpfer diesen toten Brief-kasten kontrollieren? Nico gab ihnen drei Tage und schlug für das Treffen Sonntag, den 3. Oktober, vor. Nachdem er die Antwort auf die Rückseite des Zettels geschrieben und diesen wieder unauffäl-321
lig im Erdreich vergraben hatte, machte er sich auf den Rückweg nach Nettunia.
Am Abend saß er im Schneidersitz auf dem Heuboden von
Domenico Amicis Hof, über sich eine nackte Glühlampe und im Schoß ein rotes halbledernes Buch.
DANTE ALIGHIERI
LA DIVINA COMMEDIA
Seine Gedanken wanderten die Jahre zurück bis zu jenem un-seligen Abend, als ein Zitat aus Dantes Göttlicher Komödie den Auftakt zu einem unsäglichen Drama gegeben hatte.
»›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht‹«, murmelte Nico die Worte aus dem Deckel der Lebensuhr. Warum war Manzini darüber so in Rage geraten? Weshalb hatte er sich nicht mit der Beseitigung des »Makels« begnügt, sondern die Zerstö-
rung der Uhr verlangt? Wieso wollte er, dass der Uhrmacher und sein Sohn Nettuno verließen? Und worum sorgte sich das sonst mit allen Wassern gewaschene Schlitzohr, als Emanuele ihm ein Gerichtsverfahren angedroht hatte? Zweifellos wäre dabei der Streit über das Dante-Zitat in allen Einzelheiten erörtert worden.
Welche Gaunereien, so fragte sich Nico, hätten dabei ans Licht gezerrt werden können? »Niemand verrät mich …«
Manzinis Worte hallten noch in Nicos Geist, als er das Buch aufschlug. Der Uhrmachermeister hatte dieses Exemplar der Göttlichen Komödie stets in seiner Werkstatt aufgehoben, um interessierten Kunden den Ursprung des »Markenzeichens« der Handwerkerfamilie dei Rossi zu erklären. Natürlich erzählte er auch seinem Sohn so manches über das von ihm so geschätzte Werk. Wen oder was konnte das Zitat aus dem Purgatorio verraten? Nachdenklich schlug Nico das Inhaltsverzeichnis auf. Es handelte sich um eine mehr als tausend Seiten starke kommentierte Ausgabe.
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