Der Herr der Unruhe
Schmerz, der seinem Gegenüber kalte Schauer über den Rücken trieb. Er machte eine raumgreifende Geste, die wohl die ganze Vatikanstadt einbeziehen sollte. »Wir haben hier schon vor vielen Monaten von Dingen erfahren, die schlimmer sind als jeder Albtraum, und ich rede da nicht von Vorfällen wie dem vom vorletzten Sonntag.«
»Was ist da passiert?«
»Einheiten der SS haben zweiunddreißig Einwohner von Bove, in der Provinz Cueno, kaltblütig erschossen. Leider ist das kein Einzelfall. Sie gehen mit unvorstellbarer Grausamkeit vor. Nicht einmal Frauen und Kinder sind vor ihnen sicher. Aber, so zynisch das klingt, diese Massaker sind nichts im Vergleich zu dem, was sie deinem Volk antun, Nico. Von unseren französischen Diözesen bekamen wir letztes Jahr Nachricht, dass die BBC am 1. Juli über ein Massaker an siebenhunderttausend Juden berichtet hatte.
Aus Drancy erreichte uns der Bericht eines Kinderarztes von über fünfeinhalbtausend Jungen und Mädchen, die man durch die
Stadt transportierte; ihre Eltern waren bereits liquidiert worden. Und der Papst schwieg zu alldem. Ich war nahe daran, am Glauben Schiffbruch zu erleiden, Nico. Wenn das alles vorüber ist, werde ich mein Leben von Grund auf ändern, das steht fest, aber bis dahin will ich hier ausharren und alles in meiner Macht Stehende tun, um das Leid der Menschen zu lindern.«
»Wenn doch nur dein Oberhirte so reden würde! Wieso ver-
fasst er nicht eine scharfe Enzyklika, die Hitler und den Rassismus vor aller Welt brandmarkt?«
»So ein päpstliches Rundschreiben hat es gegeben, mein
Freund. Es stammte von Pius XI. meinem Mentor und Eugenio 311
Pacellis Amtsvorgänger. Leider starb er, bevor es veröffentlicht werden konnte, und der neue Papst hielt es für zu gefährlich, Hitler offen anzugreifen.«
»Aber die Hälfte der Deutschen sind Katholiken! Selbst ein Adolf Hitler hätte nicht den Aufschrei von vierzig Millionen Bürgern ignorieren können.«
Lorenzo seufzte. »Der jetzige Papst ist ein Diplomat, der sich nicht gerne in die Angelegenheiten souveräner Staaten einmischt und überaus vorsichtig ist in allem, was er tut. Die Interessen seiner deutschen Schäfchen waren ihm wohl wichtiger als …« Der Mönch verstummte.
»Du wolltest wohl sagen, wichtiger als ein paar Tausend Juden, die den Heiland ermordet haben«, brach es aus Nico hervor. »Das verstehe, wer wolle. Wo bleibt denn seine Vorsicht, wenn es um die Ausmerzung der kommunistischen Zellen geht? Da mischt er sich alle naselang ein. Wieso kann er gegen den Bolschewismus Partei ergreifen und zugleich Neutralität heucheln, wenn Gottes auserwähltes Volk abgeschlachtet wird? Ich habe euren Heiland doch nicht ans Holz genagelt, Lorenzo, und auch nicht meine Brüder und Schwestern, die unter der Lüge vom ›reinen Blut der Arier‹ zu leiden haben. Wie kann der Papst so etwas gutheißen?
Sind Joseph und Maria etwa keine Juden gewesen? Und Petrus und die Apostel? Pius XII. hat in der Welt noch eine Stimme. Uns wurde sie genommen. Ich finde, das Neue Testament darf das Alte nicht im Stich lassen.«
Lorenzo horchte auf. »Was hast du gesagt?«
»Dass uns Juden in Europa niemand mehr anhören …«
»Nein, das andere. Das ist es, Nico! Ich muss die Einheit des Wortes Gottes beschwören!«
»Wie bitte?«
»Vielleicht hast du mir eben den Schlüssel gegeben, mit dem ich das Herz des Papstes öffnen kann. Nein, besser, es tut jemand von euch.«
»Wenn unser Oberrabbiner bei Pius XII. eine Audienz be-
käme …«
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»Das ist eine gute Idee, Nico! So machen wir ’s. Ich kenne Professor Zolli persönlich. Er ist ein vernünftiger Mann und könnte den Papst vielleicht umstimmen.«
»Wird Pacelli ihn denn so ohne weiteres empfangen?«
Lorenzo schürzte die Lippen. »Das weiß ich nicht. Norma-
lerweise schickt Seine Heiligkeit andere vor, um nötigenfalls unangenehme Ablehnungen auszusprechen. Ich könnte mir denken, dass er Luigi Maglione, seinen Kardinalstaatssekretär, die Verhandlungen führen lässt. Aber das braucht kein Nachteil zu sein. Zunächst müssen wir sehen, wie wir den Oberrabbiner ohne Aufsehen in die Città del Vaticano bekommen.«
»Könnte er nicht die versteckte Pforte benutzen?«
»Sicher. Das würde gehen. Soweit ich weiß, ist er mit Doktor Fiorentino befreundet, einem Arier, wie Kappler sagen würde. Ich werde den Doktor bitten, euren Oberrabbiner mit seinem Wagen abzuholen und hierher zu bringen. Um ganz sicherzugehen, sollte er auch innerhalb
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