Der Herr der Unruhe
Die rasch überflogene Einleitung des Autors – er hieß Giuseppe Vandelli – frischte nicht nur verblasste Erinne-322
rungen auf, sie ließ auch sein Herz von neuem bluten. All die Ablenkungen der letzten Tage waren für die Wunde dort nur ein schmutziges Pflaster gewesen. Jetzt erst begriff er richtig, warum er sich dem großen, vielleicht größten Dichter des Mittelalters so nahe fühlte.
Dante hatte sein Hauptwerk einer unerfüllten Liebe gewidmet.
Mit neun sah er ein Mädchen in blutrotem Kleid, dem er auf ewig verfiel. Sie hieß Beatrice, und als sie im viel zu jungen Alter von etwa fünfundzwanzig Jahren verstarb, beschloss er, »von ihr in einer Weise zu sprechen, wie noch von keiner jemals gesprochen worden ist«. Aus diesem Vorsatz entstand eines der Kronjuwelen der Weltliteratur.
Die Göttliche Komödie – seinen endgültigen Namen erhielt das Werk erst durch Lodovico Dolce Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts – bestand aus einhundert Gesängen, die in drei Teile gegliedert waren: Inferno, Purgatorio und Paradiso – Hölle, Fegefeuer und Paradies. Dante selbst machte sich darin zum Reisenden durch die drei Reiche der Toten. Er will, so beschreibt es sein Epos, im Jahre 1300 durch einen dunklen Wald geirrt sein, einen Wald voller Sünden. Auf der Suche nach einem Weg aus dem Dickicht trifft er den griechischen Dichter Vergil, die Verkörperung von Vernunft, Wissenschaft und Philosophie. Diese drei läutern den Wanderer schließlich auch, nachdem er an Vergils Seite die Hölle und das Fegefeuer durchquert hat, auf einem Drachen geritten ist und zwei Bootsfahrten unternommen, die Bekanntschaft von fünfunddreißig Monstern gemacht und nicht weniger als einhundertachtundzwanzig namentlich genannte
Sünder getroffen hat. Von Reue gereinigt, darf er das Paradies betreten. Dorthin geleitet ihn Beatrice, seine unerfüllte Liebe, das Sinnbild von Glauben und Gnade. Und indem er durch sie und mit ihr zur Erkenntnis gelangt, erfährt er die göttliche Liebe und findet die ewige Glückseligkeit.
»Ich wünschte, ich könnte von Laura in einer Weise sprechen, wie es noch nie ein anderer getan hat«, murmelte Nico. Er musste sich die Nase putzen, weil ihm mit einem Mal ganz mulmig ge-323
worden war. Nachdem er sich gefasst hatte, machte er sich an die Lektüre der Gesänge. Die unter den dreizeiligen Strophen gedruckten Kommentare ignorierte er.
Der Anfang war die Hölle. Buchstäblich. Auf ihrem Tor liest Dante die Worte: »Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr eintre-tet.« Nico fühlte sich einmal mehr schmerzhaft an seine eigene Situation erinnert. Aber er las weiter. Der Dichter beschrieb das Inferno als einen riesigen, aus neun kreisförmigen Bezirken bestehenden Trichter unter der nördlichen Erdhalbkugel. Ganz unten, im Mittelpunkt der Welt, hatte Luzifer seinen Sitz.
Nachdem Vergil und Dante aus den Tiefen des neunten Be-
zirks unter den südlichen Sternenhimmel getreten waren, begann für sie die Reise durch das zweite Jenseitsreich, il purgatorio, den Läuterungsberg. Fast schon erleichtert begleitete Nico die zwei Wanderer durch das Fegefeuer, wobei ihm erst jetzt klar wurde, dass diese Bezeichnung eigentlich irreführend war. Bei dem Läuterungsberg handelte es sich eigentlich um ein Spiegelbild der Hölle, also um einen auf dem Kopf stehenden Trichter. Während es aus dem Inferno kein Entrinnen gab, waren hier die Seelen »in Bewegung«, sie konnten sich durch Reue läutern und dadurch die höchste Ebene, das Paradies, erreichen. Mithin war der Läuterungsberg weniger ein abgemilderter Zwangsvollzug für Sünder, sondern ein »Ort der Hoffnung«.
Das Schweben von Dante und Beatrice durch die raum- und
zeitlosen Sphären des Paradieses brachte Nico leichter hinter sich.
Nach der Rückkehr in die Wirklichkeit fühlte er sich innerlich aufgeräumt. Gab es auch für ihn und Laura Hoffnung? Falls ja, dann musste der Weg in ihr gemeinsames Paradies wohl ebenfalls zunächst durch ein dunkles Dickicht führen, in dem er sich allzu leicht verfangen konnte. Noch einmal kehrte er zur dritten Strophe im vierten Gesang des Purgatorio zurück.
Indem wir hören oder etwas tritt in unsere Sicht,
Was stark uns anzieht,
Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht.
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O wie Recht Dante damit hatte! In Lauras Gegenwart war die Zeit immer wie im Fluge vergangen. Wie hatte diese schlichte Weisheit nur einen solchen Streit heraufbeschwören können …?
Mit einem Mal stutzte Nico. Vielleicht lag
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