Der Herr der Unruhe
darin ja der Schlüssel zu des Rätsels Lösung. Es ging gar nicht um den Inhalt des Zitates. Mit einem Mal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Ja, so musste es sein. Seine Augen wanderten an den Kopf der Seite, wo das Wort »Purgatorio« stand. Läuterungsberg. Oder Fegefeuer? Ohne sein bewusstes Zutun kamen Worte über seine Lippen, die aus einer anderen Zeit stammten.
»Manchmal offenbaren die einzelnen Teile erst ihren tieferen Sinn, wenn man sie durcheinander würfelt und neu ordnet«, wiederholte Nico die Weisheit, die ihn einst Meister Johan gelehrt hatte.
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Wien, 1932
eister Johan lächelte nachsichtig, als er seinen Schüler, über M eine filigrane Medaillonuhr gebeugt, am Rande der Verzweiflung fand. Es war Nicos erster Winter in Wien. Den Jungen irritierten weniger die winzigen Organe im geöffneten Uhrenleib, er konnte sich nur nicht richtig konzentrieren. In der Nacht hatte ihn wieder dieser Albtraum heimgesucht, und die Arbeiter-Zeitung vom 19. Dezember 1932 brachte Stinkbomben und Tränengas auf den Frühstückstisch.
Nachdem Nico den Artikel vom Anschlag der Nationalsozia-
listen im Großkaufhaus Gerngroß gelesen hatte, war ihm der Appetit vergangen. In der Werkstatt hatte er seitdem noch nichts Vernünftiges zustande gebracht.
»Du kommst mir heute irgendwie zerstreut vor. Was ist mit dir, Niklas?«, fragte der Meister.
Nico legte die Pinzette und den winzigen Schraubenzieher aus der Hand, ließ sich in die Stuhllehne zurücksinken und seufzte.
»Ich kriege das alles nicht zusammen.«
Ob Johan die trübe Stimmung seines Lehrjungen nur auf die komplizierte Uhr bezog oder sehr genau wusste, was Nico bewegte, jedenfalls antwortete er vielsinnig: »Manchmal offenbaren die einzelnen Teile erst ihren tieferen Sinn, wenn man sie durcheinander würfelt und neu ordnet.«
Nico blickte irritiert auf die Organe des Uhrenanhängers, dann wieder in das Gesicht seines Lehrmeisters. »Ich weiß nicht genau, ob ich dich richtig verstehe.«
Johan konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Lass
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mich dir erklären, was ich damit meine. Sagt dir der Begriff kosmische Kombinatorik‹ etwas?«
Nico stülpte die Unterlippe vor und hob die Schultern.
»Aber von den Kabbalisten hast du doch schon gehört.«
»Ja, das waren irgendwelche jüdischen Zauberer.«
Johan grinste. »Keine Angst, ich will dich jetzt nicht in einen Frosch verwandeln. Ich würde sie eher Mystiker nennen. Ehrlich gesagt halte ich auch nicht viel von den Geheimlehren der qabba-lah; falls dein Hebräisch hier streikt, das bedeutet nichts anderes als ›Überlieferung‹. Aber was mich wirklich zum Nachdenken gebracht hat, ist das liebste Steckenpferd der Kabbalisten. Kannst du dir denken, worum es sich dabei handelt?«
»Um kosmische Kombinatorik?«
Die Augen des Meister wurden groß und rund. »Genau! Einer ihrer eifrigsten Fürsprecher war Abraham Abulafia, ein spanischer Jude des dreizehnten Jahrhunderts. Eine Zeit lang soll er sich übrigens auch in Rom aufgehalten haben. Man nimmt an, dass er mit seinen Vorstellungen einige der namhaftesten Denker seiner Zeit beeindruckt hat.«
»Ich hab noch nie von ihm gehört. Wen soll er denn beein-
flusst haben?«
»Dante Alighieri, zum Beispiel.«
»Den Autor der Göttlichen Komödie !«
»Richtig.«
»Und was hat Abulafia über das Auseinandernehmen und Zu-
sammensetzen gesagt?«
»Du kennst die Anfangsworte des ersten Buches der Thora?«
Nico warf die Hände hoch. »Meister Mezei, ich darf seit fast einem Jahr in der Synagoge vorlesen. Natürlich kenne sie: Bereschit bara Elohim et haschamajim. «
Johan nickte zustimmend. »›Im Anfang erschuf Gott die Himmel und die Erde‹ und so weiter und so fort. Wie tat er das?«
»Ich verstehe nicht …?«
»Wie hat er das gemacht, Himmel und Erde erschaffen?«
Wieder zuckte Nico die Achseln. »Keine Ahnung.«
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»Dann hast du die Thora noch nicht gründlich genug gele-
sen. Darin heißt es nämlich: ›Und der Ewige sprach: »Es werde Licht!« Da wurde es Licht.‹«
»Ja, und?«
Johan verdrehte die Augen. »Du bist ein harter Brocken, mein Junge. Also, Abraham Abulafia behauptet, im gesprochenen Wort des Ewigen äußere sich seine Macht. Er sprach, und so wurde es.
Oder um es kabbalistisch auszudrücken: Er las aus der ›ewigen Thora‹, und es geschah.«
»Ewige Thora? Was soll denn das sein?«
»Eine Buchrolle, geschrieben mit schwarzen Flammen auf
weißem Feuer im Angesicht des Ewigen. Sie setzt sich
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