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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Gestern erst war er zum zweiten Mal zu ihr 330
    in die Pontinischen Sümpfe gefahren und unverrichteter Dinge wieder zurückgekehrt.
    In den vergangenen zwei Wochen hatte sich Nico in wech-
    selnden Verstecken aufgehalten und die Gewohnheiten von
    Manzinis Wachen studiert. Manchen Hinweis erhielt er dabei von alten Bekannten. Von Vincenzo Monti, dem Gemeindearzt, der regelmäßig BBC hörte, hatte er erfahren, dass am 1. Oktober US-Truppen in Neapel eingetroffen waren. Vielleicht fiel es ihm deshalb immer schwerer, den deutschen Patrouillen aus dem Weg zu gehen.
    Um seine Freunde in der Stadt nicht unnötiger Gefahr auszusetzen, war er die letzten vier Tage in die Cava di Santa Barbara ausgewichen, eine Höhle, die ungefähr einen Kilometer vom Stadtkern entfernt lag. In den langen einsamen Nächten hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Im Kopf verschob er die Mo-saiksteine seines Wissens wie einst Meister Johan die Buchstaben des Tetragramms. Am Morgen erst hatte sich in seinem Geist eine jener verschlungenen Gedankenketten gebildet, denen er bisweilen ganz überraschende Erkenntnisse verdankte. Es war der 15.
    Oktober, der erste Tag des Sukkot.
    Die jüdischen Familien verbrachten das siebentägige Fest zum Ende des landwirtschaftlichen Jahres nach altem Brauch in Hütten, die aus der »Frucht prächtiger Bäume« errichtet wurden, also aus Palmwedeln oder den Zweigen von Pappeln, Ölbäumen, aus Myrten- oder Olivenlaub. Nicos »Hütte« bestand aus Tuffstein, was nicht ganz den Vorschriften der Thora für das Laubhüttenfest entsprach. Seine verschiedenen Erzieher waren in diesen Dingen auch nicht besonders akkurat gewesen. Bei Sonnenuntergang begann zudem der Schabbat. Für Brot und Wein würde sich ebenfalls ein Ersatz finden müssen.
    »Du musst die richtige Anordnung der Dinge herausfinden«, murmelte Nico, während er bei Kerzenlicht mit wenig Appetit sein Frühstück hinunterwürgte. Es bestand aus trockenem Brot, einem Rest steinharter Salami und Wasser, das er aus einem Emaillebecher trank – der für den Sabbatwein war gewöhnlich 331
    aus Silber. Der Schüler des Uhrmachermeisters Johan Mezei erinnerte sich, dass die Kabbalisten auf den gleichen Zahlenwert – sechsundachtzig – in den hebräischen Worten kos und elo-him verwiesen; Ersteres bedeutete »Becher« oder »Trinkglas« für Wein, Letzteres »Gott«. Nicos Gedanken kreisten, permutierten Erinnerungen: Schriftzeichen sind Symbole, Symbole sind Bilder, Bilder formen sich zu …
    »Wochenschauen?«
    Er fühlte sich von der Assoziation zunächst überrumpelt.
    Aber mit einem Mal förderte sein Gedächtnis wieder alles hervor: den lauen Abend, die Wärme von Lauras Hand in der seinen, die erdrückende Herzlichkeit des Filmvorführers Ennio und die Wochenschau. War auch sie in Wirklichkeit eine »ewige Thora«, eine Abfolge von Symbolen mit einer geheimnisvollen Bedeutung?
    Er hatte auf der Leinwand die Festung von Nettuno gesehen und kurz drauf Massimiliano Manzini in friedlichem Körperkontakt mit Benito Mussolini.
    Seit seiner Rückkehr aus Wien hatte Nico das Forte Sangallo gemieden, weil es ihn an die schreckliche Mordnacht erinnerte und er im Zweifel war, ob er in der Festung willkommen sein würde. Inzwischen hatte er den »Dämon seiner Vergangenheit«
    bezwungen und das Haus seines Vaters betreten. Damit fiel ein Hinderungsgrund weg. Und der andere? Er würde herausfinden müssen, ob der Baron ein Zuträger Manzinis war.
    Die Umsetzung seines Entschlusses hatte etwas mehr als zwölf Stunden in Anspruch genommen; der Schabbat war inzwischen angebrochen. Nico umrundete die Festung. Seine schweren Glieder bereiteten ihm allmählich Sorgen. Hoffentlich hatte er sich nicht eine Grippe zugezogen. Der Eingang des Forte Sangallo lag auf der dem Meer abgewandten Seite. Um ihn zu erreichen, musste der Besucher einen Graben überqueren. Zu diesem Zweck gab es einen gemauerten, erhöhten Pfad, der wie ein Aquädukt aussah – von drinnen wie draußen ideal zu überwachen. Nico hoffte unbemerkt geblieben zu sein, als er endlich die Klingel betätigen konnte. Lange geschah nichts. Er fühlte sich vor der 332
    Tür wie auf einem Präsentierteller. Aber dann näherten sich schlurfend Schritte. Er räusperte sich. Eine viereckige Klappe im schweren Portal wurde aufgerissen, und zwei eng beieinander stehende Augen erschienen. Aus der Deckung grauer buschiger Brauen musterten sie den Besucher.
    »Gehen Sie, gehen Sie! Sie können hier nicht herein.« Es

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