Der Herr der Unruhe
Erkennt-nissplitter in die richtige Anordnung bringen, ihren tieferen Sinn erfassen, wenn die wichtigsten Steine des Bildes verloren gegangen waren?
»Sie haben Don Alberto gemocht, nicht wahr?«, drang endlich wieder die Stimme des Alten an sein Ohr.
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Mühsam hob Nico die Lider. Sein Kopf dröhnte. »Ja. Er war immer freundlich zu uns – zu Bruno Sacchi und mir, meine ich.
Unseren Vätern hat er oft finanziell aus Patsche geholfen.«
Der alte Kammerdiener nickte mit einem wehmütigen Aus-
druck im Gesicht. »Ja, er war ein Mäzen der schönen Künste und des feinen Handwerks. Ich glaube, er hat sich in Mussolinis Schmierentheater immer falsch besetzt gefühlt.«
Nico blickte auf. »Wie kommt es, dass Sie …?«
»Dass ich hier in diesem Sessel sitze und den Blazer des Barons trage? Das ist leicht erklärt. Die Erben haben mich als Sachwalter für das Forte Sangallo eingesetzt. Und so sehe ich hier seit einem Jahr nach dem Rechten, wimmle Besucher ab und rufe auf der Questura an, wenn sich etwas Verdächtiges regt.«
Nico erschrak.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn der Alte. »Ich werde doch Il Tedesco nicht verpfeifen.«
»Sie sind sehr freundlich, Signor …?«
»Bleiben Sie einfach bei Donatello. Wir sind beide nur Diener – auf die ein oder andere Weise.«
»Dann sagen Sie bitte auch wieder Nico zu mir, so wie frü-
her.«
»Gerne, mein Junge. Aber dann sollten wir beide zum Du
übergehen. Was ist mit deiner Frage?«
»Die erübrigt sich ja nun wohl, jetzt wo Don Alberto nicht mehr unter uns weilt.«
»Wie kannst du das sagen, bevor du dein Anliegen überhaupt vorgetragen hast? Du erwähntest die Konferenz, die hier im Jahre 1925 abgehalten wurde. Ich erinnere mich noch gut daran.«
»Du standest schon damals in Don Albertos Diensten?«
»Ja, gewiss. Schau mich alten Knochen doch an! Ich bin im gleichen Alter wie der Verblichene, Gott hab ihn selig. Im nächsten Jahr werde ich siebzig. Aber jetzt genug geplaudert. Was treibt dich, einen jungen Mann, den Manzini am liebsten wie eine schwarze Katze in einen Sack stecken und auf einem Scheiterhau-fen verbrennen würde, mitten in der Nacht hierher?«
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»Ebender. Ich will Manzini vor den Richter bringen.«
»Das haben schon ganz andere versucht und sind im Hafenbecken ersoffen … Entschuldige bitte den vulgären Ausdruck.«
Donatello war eben ein Diener vom alten Schlag, durch und durch distinguiert. Nico musste unweigerlich schmunzeln.
Dann sagte er: »Lass mich dir zuerst die Geschichte eines Wiederauferstandenen erzählen. Hinterher wirst du mich besser verstehen.«
Während das Feuer im Kamin allmählich herunterbrannte, berichtete Nico von dem Mord an seinem Vater, von seiner Flucht, den Jahren in der Fremde und zuletzt von seinem wechselhaften, bislang aber doch erfolglosen Kampf gegen Massimiliano Manzini. Zwischendurch öffnete Donatello eine Flasche Portwein und holte zwei geschliffene Gläser hervor, die er mit Bedacht einschenkte. Insgeheim musste Nico an seine Überlegungen vom Morgen denken. Der schwere portugiesische Rotwein entsprach zwar nicht ganz den Sabbatgesetzen, aber besser als Wasser war er allemal.
»Und so kehrt der Totgeglaubte heute Abend in diese Festung zurück«, brachte der Wiederauferstandene seine Erinnerungen zum Abschluss. »Leider zu spät. Hätte ich schon vor drei Jahren den Mut gehabt, mich meinem früheren Leben zu stellen, dann wäre vielleicht alles anders gekommen.«
»Zumindest hättest du Don Alberto noch eine Freude machen können. Er hatte sich immer so lebendige Söhne wie euch beide gewünscht. Wie ich hörte, kämpft Bruno Sacchi jetzt in der Resistenza?«
Nico wusste nicht, ob er darauf antworten sollte.
Der Diener nickte verstehend. »Ist schon gut, du brauchst nichts zu sagen. Also, was genau willst du wissen, mein Junge?«
»Der Streit zwischen Manzini und meinem Vater ist wie gesagt über ein Zitat aus Dantes Purgatorio entbrannt.«
»›Die Zeit geht hin, und der Mensch gewahrt es nicht.‹«
»Richtig. Ich dachte jahrelang, in diesen Worten könnte eine Art Chiffre versteckt sein. Inzwischen frage ich mich, ob der 339
Schlüssel zum Mordmotiv nicht ganz woanders liegt. Möglicherweise im Namen Purgatorio. Hast du je von einer Person gehört, die so heißt?«
Donatello dachte nicht lange nach. »Nein. Wenn überhaupt, dann dürfte das ein sehr seltener Name sein – oder möchtest du
›Fegefeuer‹ heißen?«
»Leider kann man sich das ja nicht aussuchen …
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