Der Herr der Unruhe
Armeelastwagen auf die Piazza San Pietro, hielten einige Minuten an, damit man den Petersdom, die Kolonnaden Berninis und den Obelisken bestaunen konnte, und fuhren dann weiter. Und die ganze Zeit über schrien die auf den Ladeflächen zusammengepferchten Kinder, Frauen und Männer.
Die Vorstellung, dass irgendwo unter diesen Lauten der Angst und Verzweiflung auch das Weinen seiner Gefährten sein könnte, raubte Nico fast die Besinnung. Die Tränen nahmen seiner ohnehin schon getrübten Sicht auch noch das letzte bisschen Klarheit.
Wie durch ein Wunder fand er trotzdem den Weg zu dem ver-
steckten Nebeneingang.
Als die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel, wurde er von einem Schweizergardisten empfangen, der ihn bereits kannte.
Nico fiel mehr von Albinos Rücken, als dass er hinunterstieg.
Starke Arme fingen ihn auf. Das Motorrad stürzte um.
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich … ich habe sie verloren«, schluchzte Nico.
»Sie sind ja ganz heiß!«
»Lorenzo … Er muss …«
»Sie wollen zu Bruder Di Marco? Warten Sie, ich rufe Hilfe.«
Wieder verschwammen Zeit und Raum für Nico zu einer ne-
belhaften Unbestimmbarkeit. Schwebte er durch die hohen Flure, oder wurde er getragen? Plötzlich tauchte aus den Schlieren eine schwarze Gestalt auf. Der Todesengel !, schoss es durch den gepei-nigten Geist, aber dann legte sich eine kühle Hand auf seine Stirn, und gedämpft erklang Lorenzo Di Marcos Stimme.
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»Um Himmels willen! Du glühst ja, Nico. Was ist mit dir?«
»Muss mich erkältet haben … muss Johan finden und Lea und Davide und … muss … Hilfe!« Er fühlte sich sanft in einen hoch-lehnigen Stuhl gepresst, hörte das Gluckern von Wasser. Ein Glas wurde ihm an die Lippen gesetzt.
»Hier, trink erst mal was.«
Mit großen Schlucken stürzte er das kühle Nass hinunter, verschluckte sich, hustete und stammelte erneut los. »Ein … schwarzer Wagen … Manzini … Seine Männer haben mich verfolgt und …
sie abgeholt …«
Lorenzo schickte jemanden, den Nico nicht sehen konnte,
nach einem Arzt. Dann strich er wieder über Nicos Stirn und begann in beruhigendem Ton auf ihn einzureden: »Ich habe gehört, was heute passiert ist, mein Freund. Es ist furchtbar … Mir …
fehlen die Worte. Dabei haben wir getan, was wir konnten, nachdem Ernst von Weizsäcker – das ist der deutsche Botschafter hier am Heiligen Stuhl – uns im Voraus gewarnt hatte. Der Papst hat die Geistlichen in den Gemeinden und Klöstern angewiesen, die Gotteshäuser zu öffnen, damit die Juden dort Schutz finden können. Allein in der Vatikanstadt sind um die zweihundertvierzig untergekommen. Professor Zolli sagt, dass weit über viertausend in Sicherheit sind und …«
»Zu spät!«, fiel Nico dem Mönch in einem letzten Aufbäumen ins Wort. »Dieser Obergruppenführer von der SS hat selbst gesagt, dass sie über tausend der Unsrigen eingesammelt haben.«
»Du … hast den Kommandeur der Aktion getroffen?«, fragte
Lorenzo überrascht.
»Fast hätte er mich auch mitgenommen.«
»Kennst du seinen Namen?«
Das Nachdenken fiel Nico unendlich schwer. »Er hieß …
warte … Dannecker, glaube ich.«
»Theodor Dannecker?«
»Ja.«
»O mein Gott!«
»W-was ist …?«
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»Dieser Dannecker war 1942 Leiter des Judenreferats der
Gestapo in Frankreich. Er hat Abertausende deiner Leute in den Tod geschickt. Ich dachte, er treibt jetzt in Verona sein Unwesen.
Himmler muss ihn eigens für die Razzia im Ghetto hierher beordert haben, vermutlich um die Sache so lange wie möglich geheim zu halten.«
»Zu spät …« Nicos Stimme war wie altes Papier, das bei der kleinsten Berührung zerbricht.
»Was sagst du?«
»Dein Oberhirte … Er hat sein Schweigen zu spät gebro-
chen.«
»Du darfst deine Hoffnung nicht aufgeben, Nico. Vielleicht sind deine Freunde unter den vielen, die sich rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Ich werde nach ihnen suchen lassen.«
»Hast du mir nicht zugehört?«, schrie Nico. Sein Körper
wurde von Tränen und Fieber geschüttelt. »Sie … sie haben Johan und Lea nicht in Armeelastwagen weggeschafft. Manzini hat sich für sie etwas … Besonderes ausgedacht.«
»Selbst dann ist noch nicht alle Hoffnung verloren. Aus
sicherer Quelle weiß ich, dass die Gefangenen noch auf dem Bahnhof Tiburtina sind. Bis Montag sollen sie in achtzehn Ei-senbahnwaggons auf ihren Abtransport warten. Der Papst hat in mehreren Demarchen und offiziellen Noten gegen das Vorgehen der Deutschen
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