Der Herr der Unruhe
protestiert, und jetzt wird er es noch eindringlicher tun.«
Nicos tränenüberströmtes Gesicht sprach auf den Trost nicht mehr an. Schmerz und Verzweiflung verzerrten es zu einer fast unmenschlichen Grimasse. Er schüttelte ein letztes Mal den Kopf.
Dann wurde es dunkel um ihn herum. Er fühlte sich wie ein Fallender, doch anstatt eines Aufpralls spürte er nur das Schwinden seines Geistes.
Er schwebte durch einen dunklen Tunnel. Das Gleiten im Nirgendwo schien sich unendlich hinzuziehen. Ab und zu leuch-367
teten klare Momente wie Lichtschächte in der Finsternis auf.
Ein freundlich lächelndes Gesicht, ganz von Stoff eingerahmt.
Jemand, der ihm die Stirn abtupfte. Stimmen, die vorübertrieben.
»Ist er das?«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Was fehlt ihm?«
»Er leidet an Wechselfieber.«
»Malaria?«
»Die schlimmste Form, die man kriegen kann.«
»Dabei hat er, wie mir Monsignor Maglione berichtete, so viel für seine Leute getan. Wir werden für ihn beten.«
»Das tue ich, seit er zum ersten Mal zu mir kam, Eure Heiligkeit.«
»Wird er es schaffen?«
»Es steht schlimm um ihn. Dottor Bartoletti sagt, er weist die typischen Symptome von Malaria tertiana auf: Fieberschübe alle achtundvierzig Stunden, Schüttelfrost …«
»Und was bedeutet das?«
»Nico dei Rossi ist ein Todgeweihter.«
»Mutter Maria! Hat unser Held denn überhaupt keine
Chance?«
»Das hängt davon ab, wie lange sein Körper schon mit der
Krankheit kämpft – der Doktor will noch eine genauere Blutun-tersuchung durchführen. Wenn wir die Medikamente rechtzeitig verabreichen konnten, dann besteht Hoffnung, dass er in zwei Jahren wieder ganz gesund sein wird … O nein!«
»Was ist?«
»Seine Lider bewegen sich. Er scheint aufzuwachen. Hoffentlich hat er uns nicht gehört.«
Nico öffnete die Augen. Zwei Schemen standen an seinem
Bett wie Engel, die um eine Seele stritten; die Farbe des einen war schwarz wie die Nacht, die des anderen strahlte wie frisch gefallener Schnee. Der Weiße beugte sich über den Erwachten und berührte dessen Schulter. Er trug – für Himmelsboten eher untypisch – eine runde Brille und hatte eine Adlernase.
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»Wie geht es dir, mein Sohn?«
Die schweren Lider des Sterbenskranken fielen wieder zu, und er versank erneut in Bewusstlosigkeit.
Es folgten weitere Schlaglichter geistiger Klarheit im dunklen Stollen des fiebrigen Deliriums. Wenn die Krankenschwester in solchen Momenten nicht zufällig bei ihm war, sah Nico nur die weiß getünchte Decke des Krankenzimmers über sich. Er war zu schwach, um auf sich aufmerksam zu machen. Sosehr er sich auch bemühte, wach zu bleiben, entglitt er meistens schnell wieder ins Niemandsland zwischen Traum und Tod. Manchmal
schüttelten ihn Krämpfe, und er fror, als läge er nackt im Schnee, dann wieder glaubte er, das Fieber müsse ihn verbrennen.
Eines Morgens erwachte er, und die Hitze war aus seinem
Körper gewichen. Eine Nonne fühlte ihm gerade den Puls. Sie wiederholte, was zuvor schon der Weiße mit der Hakennase gefragt hatte.
»Mein Rücken tut weh. Und mein Kopf«, antwortete der Patient mit schwacher Stimme.
Das runde Gesicht unter dem Schleier schmunzelte, als sei das die beste Nachricht, die sie seit langem gehört hatte. »Ihr Körper gewöhnt sich gerade an die Vorstellung weiterzuleben. Geben Sie ihm Zeit.«
»Welcher Tag ist heute?«
»Samstag, der 30. Oktober.«
Nicos Kopf fuhr hoch. »Ich habe zwei Wochen geschlafen?«
»Nein, Sie waren zwischendurch immer wieder wach und
haben im Delirium geredet. Alle zwei Tage wurden Sie von Fie-beranfällen geschüttelt. Das Thermometer blieb ein paar Mal nur knapp unter der Zweiundvierzig-Grad-Marke stehen. Es ist noch lange nicht ausgestanden, Signor dei Rossi, aber wenn ich Sie mir so ansehe, dann glaube ich, Sie sind über dem Berg. Und das sage ich Ihnen: Schwester Magdalenas Glaube hat schon manchen
Berg versetzt.«
»Danke, Schwester.«
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Sie tätschelte Nicos Hand. »Nicht der Rede wert. So, und jetzt lasse ich Sie mit Ihrem Besucher allein. Er hat schon seit Stunden an Ihrem Bett gewacht.«
Die Schwester entschwand in Richtung Fußende und gab den
Blick auf einen kleinen dunkelhaarigen Mann frei, der wie ein Häuflein Elend in seinem Stuhl saß. Trotzdem versuchte er zu lächeln.
»Davide!« Nico hätte vor Glück am liebsten geschrien, aber sein Atem reichte nur für ein Stöhnen.
Der Goldschmied erhob sich ächzend aus dem Stuhl, setzte
sich auf die Bettkante
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