Der Herr der Unruhe
Gefühl.
Dreh um! Wenn du zum anderen Ufer hinüberfährst, dann schließt du einen Lebenskreis. Dort drüben war er vor elfeinhalb Jahren aus einem Fischlaster gestiegen. Wie damals wünschte er sich, von den Ärzten auf der Tiber-Insel, die wie ein Lazarettschiff in den trüben Fluten trieb, von allen Sorgen und Nöten geheilt zu werden. Abermals entschied er sich für den Weg nach Sant’Angelo.
Das Versteck von Davide und Salomia Ticiani befand sich zwar einige hundert Meter westlich des Ghettos, aber trotzdem zog ihn das alte Judenviertel wie magisch an. Ihn beschlich da so eine Ahnung, die wohl mit den zuvor gesehenen Armeefahrzeugen
zusammenhing. Er ließ das Teatro di Marcello links liegen, und dann sah er sie auch schon.
Dutzende Armeelastwagen standen an den Eingängen des
Ghettos. Deutsche Soldaten trieben Kinder, Frauen und Männer zu den Fahrzeugen, schlugen die Langsamen mit ihren Gewehrkolben, bellten Befehle. »Erst holen sie unser Gold und dann 360
uns«, hatte Davide Ticiani an jenem Abend gesagt, als die Hilfe des Papstes viele noch hoffen ließ. Am zweiten Tag des Laubhüttenfestes, an einem heiligen Sabbat, viel schneller als erwartet, traf seine Voraussage nun ein.
Wider alle Vernunft ließ Nico sein Motorrad am Palazzo Vene-zia stehen und schwankte zu Fuß in Richtung Sant’Angelo. Von hier war es nicht weit zu jenem namenlosen Platz, an dem sich die Wohnung der Ticianis befand. Ein starkes Rauschen in seinen Ohren erschwerte ihm die Orientierung. Die Laute der Armeelastwagen klangen dumpf. Er hatte das Gefühl, durch eine Röhre zu blicken, die mit jedem Schritt enger wurde.
Unbehelligt betrat er das Ghetto. Ein noch wacher Teil seines Bewusstseins schlug Alarm. Es war so still hier. Nur mit Mühe bewältigte sein Verstand die letzte Höhe der Unfassbarkeit, die seine Gefühle noch immer nicht ermessen konnten: Sant’Angelo war ausgeräumt, menschenleer, eine nicht länger bewohnte Steinwüste.
Nico lehnte sich gegen eine Hauswand, um Kraft zu schöpfen.
Nicht hinsetzen !, ermahnte er sich und konnte trotzdem nichts gegen die immer weicher werdenden Knie tun. Von den Tränen, die ihm über die Wangen liefen, merkte er nichts.
»Was flennen Sie wie ein Weib?«, fuhr ihn unvermittelt eine Stimme an. Sie sprach Deutsch. Ein Italiener wiederholte die Frage. Prasselndes Stiefelgetrappel deutete auf die Anwesenheit weiterer Soldaten hin.
Der Schreck wirkte auf Nico wie eine eiskalte Dusche. Trotz furchtbarer Schmerzen reckte er den Rücken. »W-wo … wo sind sie alle hin?«, stammelte er auf Italienisch.
»Wohnen Sie hier?«, fragte erst der Deutsche, dann der Übersetzer.
Verschwommen nahm Nico vor sich zwei Uniformen und
dahinter eine wogende graue Wolke aus weiteren Soldaten wahr.
Er kniff die Augen zusammen, sammelte Kraft. Als er sie wieder öffnete, sah er ein bleiches keilförmiges Gesicht und darüber, auf einer Offiziersmütze, einen Totenkopf.
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»Ich … nein«, erwiderte Nico und ließ den Kopf hängen.
»Sind Sie Jude?«, hakten die Sprecher zweisprachig nach.
»Ich … ich komme aus Nettunia und habe mir die große
Schreibmaschine angesehen. Gerade wollte ich auf dem kürzes-ten Weg nach Regula.«
»Ist der Kerl betrunken?«, fragte der Deutsche, nach der Übersetzung. Dem Dialekt nach war er ein Schwabe. Der Dolmetscher antwortete direkt.
»Wenn Sie seine Bemerkung über die ›große Schreibmaschine‹
meinen, Herr Obergruppenführer – damit meint er den Vittori-ano.«
»Jetzt bin ich genauso klug wie vorher.«
»Das Denkmal zu Ehren von König Vittorio Emanuele II. Steht gleich hier um die Ecke, Herr Obergruppenführer. Ist so ein monumentales Ding aus weißem Marmor, das aussieht wie …«
»Wie eine große Schreibmaschine. Jetzt habe ich es auch verstanden. Der Kerl hat aber immer noch nicht meine Frage beantwortet.«
»Sind Sie Jude?«, hakte der Dolmetscher nach.
Nico fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn er nur den Mund öffnete. Mit zitternden Fingern nestelte er in der Brusttasche seiner Jacke herum.
Schließlich förderte er eine braunlederne Brieftasche hervor und streckte sie in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren.
Es dauerte eine Weile, bis der italienische Dolmetscher die richtigen Dokumente gefunden hatte. Leise und schnell erklärte er seinem Vorgesetzten: »Sein Name lautet Niklas Michel. Geboren in Tirol. Italienischer Staatsbürger.«
»Also kein Jude«, schnarrte der
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