Der Herr der Unruhe
und nahm Nicos Hand. »Du hast mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt, mein Junge.«
»Wie hast du mich gefunden?«
»Ich bin in die Città del Vaticano geflohen. Lorenzo hat mir einen Pass mit dem Stempel des Heiligen Stuhls besorgt. Offiziell gehöre ich zur Palatingarde des Papstes.«
Nico erinnerte sich an die wütende Bemerkung eines SS-Offiziers. Wie lange war das her? »Du sprichst immer nur von dir …
Was ist mit Salomia?«
Davide senkte den Blick. Seine Lippen begannen zu beben. Er schüttelte den Kopf, brachte aber kein Wort hervor.
Nico ahnte, was das Zittern in den Händen seines Freundes zu bedeuten hatte. Er schloss die Augen und flehte: »Bitte nicht!«
Ein langes Schweigen folgte. Endlich drang wieder Davides brüchige Stimme an sein Ohr.
»Ich war in der Nacht auf den 16. Oktober zu einem neuen
Quartier aufgebrochen, weil es in dem alten zu gefährlich geworden war. Israel Zolli hatte mich gewarnt. Er ist den Häschern Kapplers ein paar Mal nur mit Mühe entkommen. Als ich am
frühen Morgen wieder zurückkam …« Davides Stimme versagte.
Er schüttelte verzweifelt den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. »Da war Salomia weg. Auch unsere Freunde. Die Deutschen haben jedem schwere Strafen angedroht, der Juden Unterschlupf gewährt oder ihnen sonstwie hilft.«
»Aber vielleicht konnten sie fliehen …«
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»Nein«, stieß Davide hervor. »Die SS hat zwölfhundert von uns eingefangen. Papst Pius hat daraufhin den deutschen Botschafter einbestellt und gegen die Verhaftungen protestiert. Weizsäcker soll selbst nicht glücklich mit den menschenverachtenden Auswüchsen des Hitler-Regimes sein und fand wohl den richtigen Ton, um die Judenjäger zu verunsichern. Sie ließen zweihundert Geiseln frei. Salomia nahmen sie mit.«
»Johan und Lea …«
»Auch sie wurden in den Waggons abtransportiert. Lorenzo
hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber er konnte nicht mehr erreichen als eine Bestätigung ihrer Namen. Ich habe ihm so lange zugesetzt, bis er mir verraten hat, was die ›übliche Verfahrens-weise‹ in solchen Fällen ist.« Nico wagte nicht, danach zu fragen, aber Davide schien offenbar das Bedürfnis zu verspüren, sich den Kummer von der Seele zu reden. Sein Atem flatterte, als er tief Luft holte und hinzufügte: »Sie sammeln ihre Beute in Anhaltelagern – San Sabba, Fossoli di Carpi, Borgo San Dalmazzo, Bozen –
ich konnte mir die ganzen Namen nicht merken. Von dort werden sie nach Osten deportiert, vor allem nach Auschwitz.«
Nico schmatzte, weil sich seine Zunge wie ein trockener Le-derlappen anfühlte. »Was … bedeutet das?«
»Das ist ein Todeslager. Eigentlich sind es sogar mehrere. Lorenzo sagte, sie bringen die Menschen dort …« Wieder musste Davide erst schlucken, bevor er weiterreden konnte. »Sie töten unser Volk mit Gas, Nico. Die Schornsteine des Krematoriums sollen Tag und Nacht rauchen.«
»Das glaube ich nicht!«
»Dem Vatikan liegen zahlreiche Berichte von den Gräueltaten vor.«
»Und wieso hat der Papst dann nicht viel früher dagegen protestiert?«
»Aus Sorge um seine Schäfchen, aus diplomatischen Erwägungen – ich weiß es nicht. Die Tage stand übrigens ein Artikel im L’Osservatore Romano, in dem Papst Pius sich mit starken Worten gegen die Massenarretierung der Juden ausgesprochen hat.«
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»Zu spät, Davide! Tausend der Unsrigen wurden wie Schlacht-vieh zusammengetrieben. Ich hab es selbst gesehen. Wo haben die Schweine nur unsere Namen her?«
»Der Oberrabbiner hatte die Ältesten gewarnt, aber sie wollten nicht auf ihn hören.«
»Was meinst du damit?«
»Fünf Tage vor der Verschleppung hat Kappler unsere wert-
vollsten Bücher, Handschriften, Pergamente und Papyri aus dem Archiv und der Bibliothek ausräumen lassen. Bei der Aktion sind ihm auch die Mitgliederlisten der Gemeinde in die Hände gefallen.«
»Hätten sie doch nur auf Professor Zolli gehört!«
»Ich zweifle, ob wir in dem Fall unbehelligt geblieben wären.
Du selbst weißt ja am besten, wie lange Kappler und seine Helfershelfer schon unsere Vernichtung planen.«
»Aber Johan und Lea hätten vielleicht gerettet werden können.
Ich habe an dem Morgen der Razzia in Nettuno das Gesicht des Mannes wiedererkannt, der sie Ende September in der Via Dandolo bespitzelt hatte. Mir fällt nur ein Grund ein, wieso der Kerl ausgerechnet vor der Festung aufgetaucht ist, in der ich zuvor die Nacht verbracht habe: Massimiliano Manzini. Ich muss so schnell wie
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