Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
möglich nach Nettunia zurückkehren und diesem Ungeheuer endlich das Handwerk legen.«
    »Mach keine Dummheiten, Junge. Schon Euripides schrieb:
    ›Die Zeit entlarvt den Bösen.‹«
    »Wer, um alles in der Welt, ist Euripides?«
    »Du kennst den griechischen Dichter nicht? Sein Hippolyt enthält Weisheiten, die in Zeiten wie diesen Hoffnung geben.«
    »Kann er dir Salomia zurückgeben?«, entgegnete Nico trot-
    zig.
    Davide rang sichtlich um seine Fassung. Seine Antwort klang kühl: »Nein. Ihr Schicksal liegt jetzt in der Hand des Ewigen.«
    Nico senkte den Blick. »Entschuldige. Ich wollte nicht …«
    Er spürte, wie die Hände des Goldschmieds sanft den Druck um seine Rechte verstärkten.
    372
    »Lass es gut sein, Junge. Auch mein Herz schmerzt, als hätten mir diese Teufel die Hälfte davon ausgerissen. Ich kann gut nachvollziehen, was du fühlst. Aber glaube mir, Rache ist nicht der richtige Weg. Wenn du den Ewigen drängst, wird er dir ausweichen. Manchmal gibt er dem, der am wenigsten erwartet, das kostbarste Geschenk. Zunächst musst du gesund werden. Es gibt wenig, das so wertvoll ist wie die Zeit, denn über sie zu verfügen bedeutet zu leben.«
    373

    Wien,

    1938

    ohan Mezei schloss den oberen Knopf des Mantels. Sein Atem J trieb in weißen Wölkchen auf den Fluss hinaus. Der Frühling hatte den Kampf gegen den Winter noch nicht aufgenommen.
    »Vielleicht wird das Jahr 1938 ein Wendepunkt in der Tech-nikgeschichte, Niklas. Jedenfalls hat Konrad Fleischhauer eine Cousine in England, und die hat ihm letztens einen komischen Brief geschrieben.«
    Nico schleuderte einen weiteren Stein in die träge dahinflie-
    ßende Donau und zählte die Anzahl der Hüpfer. Vier! »Was?«
    »Du hörst mir gar nicht zu. T. Ross – keine Ahnung, wofür das
    ›T‹ steht –, also der ist ein Ingenieur aus den Vereinigten Staaten und hat eine Maschine entwickelt, die angeblich aus Erfahrungen lernen kann. Unglaublich, was!«
    »Der hat ja eine Ahnung.«
    Johan lachte. »Ich erinnere mich noch genau, wie du damals vor mir standest – ein dürrer Naseweis mit strubbeligem Haar –
    und mir erzähltest, aus welchem Grund die Spiralfeder meiner Lebensuhr gebrochenen ist. Aber nicht alle Menschen sind so wie du, Junge.«
    Nico bückte sich nach einem neuen Stein. »Das stimmt. Nicht jeder muss mit ansehen, wie sein Vater ermordet wird.«
    Der alte Uhrmacher verdrehte die Augen zum grauen Himmel
    und fiel dabei fast hintenüber. »Geht das jetzt wieder los!«
    »Was soll ich denn machen?«, jammerte Nico. »Ich habe Alb-träume. Ständig sehe ich Manzinis Bild vor mir. Warum lässt mich 374
    der Herr keine Ruhe finden? Ich glaube, das ist ein Zeichen. Er will, dass ich den Mord an meinem Vater räche.«
    Johan Mezei schürzte die Lippen, und sein Schnurrbart
    sträubte sich wie bei einem Walross. Man konnte zusehen, wie das Räderwerk in seinem Kopf arbeitete. »Weißt du, was eine der größten Schwächen von uns Menschen ist, Niklas?«
    Der Gefragte zuckte die Achseln.
    »Wenn es uns gut geht, dann nehmen wir das für selbstver-
    ständlich, aber wenn wir leiden müssen, dann machen wir den Ewigen dafür verantwortlich. Wer hat denn deinen Vater umgebracht? War es Gott?«
    »Natürlich nicht. Aber er hätte es verhindern können.«
    »Sicher hätte er das. Wir lassen ihn die Drecksarbeit erledigen und fühlen uns danach ganz groß, weil wir glauben, alles im Griff zu haben. Kannst du dich noch erinnern, was die Schlange im Garten Eden zu Eva sagte?«
    »Sie solle von der Frucht essen.«
    »Unter anderem. Sie säuselte: ›Schnapp dir das süße Ding, denn du wirst nicht sterben, wie der Ewige behauptet hat. Er hat nur Angst, dass ihr Menschen wie er werdet, dass euch die Augen geöffnet werden und ihr plötzlich zwischen Gut und Böse unterscheiden könnt.‹ Alle Engel im Himmel hielten sich vor Schreck die Hand vor den Mund und dachten: ›Kann das wahr sein?‹«
    »So habe ich das noch nie im Bereschit gelesen.«
    »Mag sein. Muss wohl an Leas Einfluss liegen, wenn ich es etwas ausgeschmückt habe. Aber wenn du drüber nachdenkst, kann es nicht viel anders gewesen sein. Der Widersacher, der hinter der Schlange stand, wollte den Menschen weismachen, sie könnten ihre Geschicke ohne Gott lenken. Um ihnen das Gegenteil zu beweisen, muss der Ewige sie Fehler machen lassen.«
    »Und deshalb nimmt er Kindern die Eltern weg?«
    »Selbst wenn es so wäre – Hiob sagte einmal: ›Sollen wir nur das Gute vom Ewigen nehmen und

Weitere Kostenlose Bücher