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Der Herr der Unruhe

Der Herr der Unruhe

Titel: Der Herr der Unruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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nicht auch das, was von Übel 375
    ist?‹ Er wusste nicht, dass der Widersacher ihn prüfte. Nicht der Herr hat deinen Vater ermordet, Niklas, nicht einmal ein Asmodi oder ein anderer Dämon, sondern nur ein böser Mensch.«
    »Der seine Strafe verdient. Deshalb sendet mir der Ewige die Traumzeichen.«
    Johan seufzte leise. »Welche Vorstellung verbindest du mit dem Wort mannah ?«
    Die Gedankensprünge des Meisters waren bisweilen sehr
    überraschend. Nico blickte von dem flachen Stein auf, den er eben noch in der Hand gewogen hatte. »Als das Volk Israel das Brot vom Himmel zum ersten Mal sah, rief es: ›Was ist das?‹, oder auf Hebräisch: ›Man hu’?‹ So bekam die Speise, für die der Ewige während ihrer vierzigjährigen Wüstenwanderung sorgte, den Namen Manna.«
    Johan nickte lächelnd. »Du hast in den letzten sechs Jahren viel dazugelernt. Man kann – um deine Worte zu benutzen – die
    ›Zeichen‹ in dieser Weise lesen, manchmal verbirgt sich in den Schriftzeichen aber noch eine ganz andere, eine tiefere Bedeutung.«
    »Du meinst, wenn man sie umschaufelt wie die Kabbalisten?«
    »Nein, das ist in diesem Fall nicht nötig. Du musst nur das scheinbar Offensichtliche transparent machen, um das Hintergründige zu erkennen. Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Das hebräische Wort für Manna lautet se man, was übersetzt ›die Zeit‹
    bedeutet.«
    »Oh! Das muss mir entfallen sein. Ich kann mir schon denken, was du sagen willst: Ich bin zu ungeduldig.«
    »Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Eine andere Frage: Was ist mit dem Manna geschehen, wenn einer versucht hat, mehr zu sammeln, als er für einen Tag zur Speise brauchte?«
    »Es ist verfault.«
    »Genau. Es war völlig ungenießbar, eine stinkende Masse.«
    »Außer vor einem Schabbat. Da durfte die doppelte Tagesration aufgelesen werden.«
    376
    »Was ein weiteres Wunder war. Sehr richtig, Niklas. Warum hat der Ewige das Manna nicht ein bisschen haltbarer gemacht?«
    »Hm. Vielleicht um sich seinem Volk jeden Tag aufs Neue als Lebengeber und -erhalter ins Gedächtnis zu rufen?«
    »Gute Antwort, Thora-Schüler Niklas! Man könnte auch
    sagen, damit nicht der Mensch wie an den sechs übrigen Tagen der Woche die Zeit besitze, sondern sie ihn. Am Schabbat findet er Muße zur Einkehr, zur Begegnung mit seinen Lieben, zum Studium. Abraham Joshua Heschel sagte einmal, dass es für den Menschen darauf ankommt, die Dimensionen des Raumes und
    der Technik zu verlassen und in die innerliche Dimension der Zeit einzutreten. Für uns Uhrmacher eine höchst bemerkenswerte Erkenntnis, findest du nicht?«
    Nico war sich nie ganz sicher, ob er die Gedankengänge seines Meisters ganz erfasste. »Willst du mir damit sagen, dass wir vom Ewigen, so wie einst das Manna, ein tägliches Maß se man – also Zeit – zugewiesen bekommen?«
    Johan lächelte verschmitzt. »Ich möchte dich zu eigenen
    Schlussfolgerungen anstiften, was mir anscheinend gelungen ist.
    Wer ein Zuviel an Manna sammelte, gewann dadurch nicht das Geringste. Das Auflesen des himmlischen Brotes ist eine Tätigkeit gewesen, die wie jede andere nicht von der Zeit zu lösen ist. Wie wird es wohl dem Narren ergehen, der ihr in seinem Streben vor-greift, als ließe sich se man in Körben horten?«
    »Er könnte verderblich handeln«, brummte Nico.
    »Könnte?«
    »Ich habe schon verstanden, was du sagen willst, Meister
    Johan.«
    Der Uhrmacher tätschelte seinem Gesellen den Rücken. »Jetzt ziehe nicht so ein finsteres Gesicht, Niklas. Du bist für mich wie der Sohn, den Lea und ich nie gehabt haben. Ich möchte dir doch nur helfen.«
    »Mit Rätseln über die Zeit?«
    »Nein, mit Wegweisern in deine Zukunft. Ich stelle sie nur 377
    auf, aber welche Richtung du einschlägst, bleibt natürlich deine Entscheidung.«
    »Wenn es nur nicht so schwer wäre, die Zeichen richtig zu deuten!«
    »Der erste Schritt zu einer guten Entscheidung ist die Erkenntnis, dass es überhaupt mehr als eine Deutung gibt. Wenn du mal wieder an einer Gabelung stehst, dann denke einfach an se man .«
    378

    Rom, 1943-1944

    as tatenlose Herumliegen ging ihm allmählich auf die Nerven.
    DSchwester Magdalena meinte, seine Unrast sei ein gutes Zeichen. Nico litt zwar immer noch an regelmäßig wiederkehrenden Fieberschüben, aber die Anfälle waren nicht mehr so heftig. Seine Zähigkeit sei außergewöhnlich, hatte Doktor Bartoletti vor einigen Tagen gesagt und sich dann zu der vorsichtigen Prognose hinreißen lassen,

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