Der Herr der Unruhe
euch aufgekreuzt?«
»Ja. Am Nachmittag, kurz vor Sonnenuntergang. Mit einem
Mal stand er am Hintereingang bei der Via del Limbo. Diesmal wollte er mich sprechen. Ich habe ihn nicht mal reingelassen, sondern ihn wütend fortgeschickt.«
»Und das war heute ?«
»Vor ungefähr acht Stunden.«
Ein gehetzter Ausdruck trat auf Nicos Gesicht. Seine Augen sprangen nervös im Turmgemach herum. »Wir müssen sofort
fliehen, Laura.«
»Was? … Wieso?«
»Bruno und ich sind im Streit auseinander gegangen. Jetzt hat er gleich zwei Gründe, mich zu verraten: Der eine bist du, und der andere ist meine Weigerung, ihn bei seinen Sabotageakten zu unterstützen. Wir sind hier nicht mehr sicher.«
Schnell klaubte Nico die Divina Commedia und seine übrigen Habseligkeiten zusammen, stopfte alles in die lederne Motorrad-tasche, nahm Laura bei der Hand und stieg mit ihr die Treppe zum Fuß des Turms hinab. Sie rannten über den kleinen Innenhof zum Ausgang, hinaus auf den Steg, auf das rettende Wäldchen zu. Kurz bevor sie die Annunziate erreichten, flammten plötzlich Scheinwerfer auf.
»Stehen bleiben! Und Hände hoch!«, rief jemand auf Italienisch.
Schliddernd kam das Paar zum Halten.
»Nicht bewegen!«, raunte Nico. Er ließ die Satteltasche aus der Hand gleiten. Während er die Arme hob, schweifte sein Blick zu den umstehenden Gebäuden. Überall erschienen dunkle Sche-435
men mit Maschinenpistolen im Anschlag. Zu spät bemerkte er die drei Mannschaftswagen unter den Tarnnetzen, deren Scheinwerfer die Insel in ein fahles Licht tauchten.
Ein Offizier der Wehrmacht näherte sich den Umzingelten
ohne allzu große Eile. In fünf oder sechs Schritt Entfernung blieb er vor ihnen stehen. Nico hatte dieses grinsende Gesicht schon einmal gesehen. Es gehörte Feldwebel Hurz, demselben Offizier, der vor zehn Tagen die Abnahme einer stinkenden Ladung Fisch verweigert hatte.
»Die pickeligen Pennäler revanchieren sich«, murmelte Nico.
»Was haben Sie gesagt?«
»Nichts. Sie sind doch wegen mir gekommen, nicht wahr?
Bitte lassen Sie die Frau laufen.«
»Den Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun. Aber Sie beide wollten doch sowieso zusammenbleiben, bis der Krieg zu Ende ist. Den Wunsch werde ich Ihnen gerne erfüllen.«
Nico erschauderte. Seine Augen suchten die Dunkelheit
hinter den Scheinwerfern ab. Es waren zu viele Gewehre, um sie zum Schweigen zu bewegen. Wenn er die Waffen wenigstens sehen könnte! »Bitte, Herr Feldwebel«, bettelte er jetzt auf Deutsch. »Das Mädchen hier bei mir ist Laura Manzini. Sie dürfen ihr nichts tun. Don Massimiliano ist doch Ihr Verbündeter.
Er würde …«
»Don Massimiliano«, unterbrach ihn die kalte Stimme des
Feldwebels, »ist ein Dreck! Er hat uns in letzter Zeit immer wieder hereingelegt und heute Abend fast einen Oberst umgebracht.
Wir vermuten schon länger, dass er mit den Partisanen unter einer Decke steckt.« Hurz grinste. »Sie selbst bieten uns ja gerade den Beweis dafür.«
Die Vorstellung, Laura mit seinem Ränkespiel in diese Situation gebracht zu haben, ließ Nicos Knie weich werden. Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. »Sie … Sie dürfen ihr nichts tun, Herr Feldwebel. Signora Manzini wusste nichts von den Machenschaften ihres Vaters. Bitte lassen Sie sie gehen!«
Hurz trat noch drei Schritte näher heran. Ihm war anzusehen, 436
wie er sich an Nicos Verzweiflung weidete. Sehr leise erwiderte er. »Sorgen Sie sich nicht, Signor dei Rossi. In ein paar Stunden werde ich Sie gehen lassen. Sie alle beide. Ich schicke Sie auf eine Reise, von der Sie niemals wiederkehren.«
Das kleine Licht unter der Plane des Lastwagens war ein Zugeständnis, das vor allem den Bewachern nützte. Sie wollten ihren Schutzbefohlenen die Lust an Heimlichkeiten nehmen. Der Feldwebel hatte den Gefangenen das Reden verboten, bevor sie auf die Ladefläche gestoßen worden waren. Nico überlegte, ob er die auf ihn und Laura gerichteten Maschinenpistolen ins Gebet nehmen sollte. Es waren nur vier Waffen, gehalten von jungen Soldaten, die auf der Bank gegenübersaßen. Ihre Feuerbereitschaft zu lähmen wäre wohl nicht das Problem gewesen, aber was dann? Ihr Transporter befand sich in der Mitte der Kolonne, die jetzt schon recht lange die Küste hinaufschaukelte. Selbst wenn sie den vier Wachen entkamen, würden sie draußen eine ganze Hundertschaft von Gegnern im Nacken haben. Allein hätte Nico vielleicht dieses Risiko gewagt, aber mit Laura? Er musste auf eine günstigere
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