Der Herr der Unruhe
von sich gab, stammte von dem herausfallenden Magazin. Der zweite Posten machte dieselbe Erfahrung.
»Pech gehabt!«, rief Nico den reichlich verwirrten Soldaten zu, die viel zu spät auf die Idee kamen, ihn zu verfolgen. Schon war er herumgewirbelt und eilte davon. Als er um die Hausecke bog, verloren sie ihn aus den Augen.
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Nettunia, 1944
enn der Fuchs sich blicken lässt, fliehen die Kaninchen unter W die Erde. Nicht anders verhielt sich Nico. Nach seinem
Entkommen aus dem Garnisonsgebäude war er in der Altstadt untergetaucht. Buchstäblich. Er hatte sich in die Tunnel hinab-begeben und die Suchtrupps der Wehrmacht wie eine Flutwelle über sich hinwegschwappen lassen. In den Höhlen wurde er wie der verlorene Sohn begrüßt. Nur noch wenige Nettunier harrten unter der Stadt aus. Unter ihnen befand sich auch Signora Tortora.
»Na bist du endlich wieder da, Jungchen?«, begrüßte sie ihn.
Nico erzählte dem Überrest der »Höhlenmenschen« von den
dramatischen Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden und richtete das Wort dann wieder direkt an die Witwe mit den sich ringelnden Seidenstrümpfen.
»Sie haben Ihre Augen und Ohren doch überall, Signora. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten über Laura Manzini und ihren
Vater?«
»Das will ich meinen!«, grunzte sie. »Die Familie und ihr Personal befinden sich unter Arrest.«
»Was?«
Die Tortora kicherte. »Das hat sich der Kerl selbst zuzuschreiben. Na, vielleicht hast du auch ein bisschen dazu beigetragen.
Jungchen. Die Wehrmacht hat seinen Palazzo umstellt. Man ist sich wohl nicht einig, was man mit dem Gouverneur anfangen soll.«
»Das kann stimmen. Bei der SS hat er wohl immer noch ein
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paar hoch stehende Freunde. Mir liegt der Gedanke wie ein Stein im Magen, dass Laura ihre Rettung diesem Judenjäger Kappler verdanken könnte.«
»In der Wehrmacht soll es ein paar Leute geben, die Manzini am liebsten in seinem Palazzo ausräuchern würden. Du solltest dein Mädchen schleunigst da rausholen.«
»Genau das habe ich vor. Und zwar sofort.«
Nico begab sich, von Signora Tortoras Dunstglocke eingehüllt, zur unterirdischen Geheimtür von Manzinis Palast. Dort machte er eine schreckliche Entdeckung. Die Tür war verrammelt. Obwohl er das Schloss problemlos hatte öffnen können, ließ sie sich keinen Fingerbreit bewegen. Verzweifelt drehte sich Nico zur Tortora um, die mit einer Kerze hinter ihm stand.
»Sie haben den ganzen Keller verbarrikadiert.«
Ihre ohnehin schon runzelige Stirn furchte sich noch mehr.
»Woher weißt du das?«
»Das Schloss hat’s mir verraten.«
»Ach so. Ist es zufällig mit Doktor Montis Radio verwandt oder verschwägert?«
»Mir ist nicht zum Scherzen zumute, alte Frau.«
»Wie hast du mich genannt?«
»Entschuldigung. Ist mir so rausgerutscht. Was mache ich
denn jetzt? An den Posten oben komme ich nicht vorbei. Aber ich muss Laura da irgendwie herausbekommen und in Sicherheit bringen.«
»Hast du dir schon überlegt, wie ihr aus der Stadt entkommen wollt? Ich meine, wenn du dein Mädchen nicht gerade still und heimlich entführst, dann wird die ganze Wehrmacht hinter dir her sein.«
»Sie haben Recht. Ich brauche ein Transportmittel.«
»Wie geht es deinem Schimmel?«
»Wem?«
»Na dem weißen Motorrad. Wie nanntest du es doch
gleich …?«
»Albino. Hab es im Wald beim Torre versteckt.«
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»Wenn du stramm marschierst, dann kannst du in einer Stunde, höchstens anderthalb dort sein. Hol’s dir. Roll es im Dunkeln in die Stadt zurück. Den Motor musst du auslassen, damit dich niemand hört. Versteck es in irgendeinem verlassenen Haus.«
Die Zuversicht, mit der die Tortora sprach, flößte Nico neue Hoffnung ein. Er konnte sogar ein kleines Lächeln aus sich her-auspressen. »Sie hätten Hauptmann werden sollen, anstatt …«
»Eine schlampige alte Vettel?«
»Das haben Sie gesagt.«
»Ist schon in Ordnung. Ich pflege meinen Ruf, so gut ich
kann.« Wieder kicherte sie. »Vorschlag: Lass uns zunächst zum Lauschposten gehen, und du kitzelst für mich die Plaudertasche.
Ich grase ein wenig den Äther ab, bis du mit dem Motorrad zu-rück bist. Vielleicht schnappt das Mikrofon ja etwas Nützliches auf, das uns weiterhilft.«
Nico überlegte nicht lang. »Gute Idee. So machen wir ’s.«
Die Sonne hatte sich bereits ins Tyrrhenische Meer gesenkt, als Nico nach Nettuno zurückkehrte. Es war nicht ganz ungefährlich gewesen, Albino aus dem Hain beim Torre Astura zu bergen, denn
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