Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
Fleisch. Das war das zweite Ereignis. Beim dritten ging ich hinter Celia in Deckung beziehungsweise tat so, als ob.
Die vierte Sache geschah so schnell, dass Celia sie gar nicht bemerkte.
Brightfellow starrte auf sein rohes Fleisch, von dem die Haut weggesengt worden war, starrte auf den tiefen Riss, durch den man seine Rippen sehen konnte. Ruckartig drehte er den Kopf in Celias Richtung, dann kippte er nach vorn.
Celias Hand leuchtete nach wie vor von dem Zauber, mit dem sie Brightfellow getötet hatte. Unmittelbar darauf wandte sie sich an mich, ohne der vor uns liegenden Leiche auch nur die geringste Beachtung zu schenken. »Bevor du irgendetwas unternimmst, bevor du irgendetwas sagst, solltest du dir erst ein paar Dinge anhören.« Sie trat von mir zurück, bis sie außer Reichweite war. »Die Zauber, die der Meister gewirkt hat, lassen sich nicht noch einmal wirken. Verstehst du? Ich wollte mich nicht der Kinder bedienen, das musst du mir glauben. Ich habe die letzten zehn Jahre in diesem verdammten Turm zugebracht, um mich auf heute, auf Vaters Tod vorzubereiten. Ich wünschte, ich wäre besser.« Sie schloss kurz die Augen. »Beim Erstgeborenen, ich wünschte, ich wäre besser. Aber ich bin es nicht. Mit dem Tod des Meisters erlöschen seine Schutzzauber. Jetzt ist Winter, aber sobald es wieder warm wird – du begreifst nicht, wie es sein wird, wenn die Seuche zurückkehrt.«
»Spar dir das Gerede. Ich kann mich genau daran erinnern, wie es war.«
Sie seufzte. »Ja, natürlich.«
Ich dachte, sie würde fortfahren. Als sie das nicht tat, fragte ich: »Warum hast du ausgerechnet Zeisig entführt?«
»Wir brauchten ein Kind mit magischen Anlagen. Die sind gar nicht so leicht zu finden.« In ihrer Stimme klang leises Bedauern an, aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein. »Wir hatten keine Zeit, lange herumzusuchen.«
»Und du wusstest, dass ich mich blindlings auf den Herzog stürzen würde, wenn du dir Zeisig schnappst.«
»Ja.«
Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, was ich von dem, das sie mir mitgeteilt hatte, hielt. Offenbar gelang mir das aber nicht, denn sie presste verbittert die Lippen aufeinander. »Sieh mich nicht so an«, zischte sie. »Ich hätte dich töten können, weißt du. Ich hätte das Wesen jederzeit auf dich loslassen oder dich im Schnee erfrieren lassen können.«
»Du bist ein Goldstück.« Ich hatte das Gefühl, als hätte sich mir etwas ins Gehirn gebohrt, irgendeine stachlige Kreatur, die sich im Zentrum meines Schädels eingenistet hatte und im Gewebe herumtobte. Nur der Koboldatem, den ich mir reingezogen hatte, hielt mich noch aufrecht. Allerdings war das Summen in meinen Ohren so laut, dass ich mich anstrengen musste, um Celia überhaupt zu hören. »Was ist bloß aus dir geworden?«
»Ich weiß, was ich getan habe – da mache ich mir keine Illusionen. Aber ich werde es nicht zulassen, dass des Meisters Werk vergeblich war, ich werde es nicht zulassen, dass alles wieder so wird wie früher. Zehntausend Mütter, zwanzigtausend Väter, Stapel von Leichen, die nicht mehr zu zählen sind. Sommer für Sommer, Jahr für Jahr. Ich erwarte nicht, dass du mir vergibst, ich glaube, das würde niemand tun. Aber immerhin werden im nächsten Sommer die Einwohner der Unterstadt nicht wie Aas in der Sonne verfaulen.«
»Von so weit oben ist es vermutlich schwierig, einzelne Gesichter zu erkennen. Wenn du je ein Kind aus dem Dreck gezogen hättest, wär deine Einstellung vielleicht anders.«
»Ich dachte mir schon, dass du mich nicht verstehst.«
»Möglicherweise bin ich nicht so altruistisch wie du. Heute habe ich mehrere Männer umgebracht – nicht alle von denen hatten das verdient.«
»Jeder muss einmal sterben«, sagte sie. Das ließ sich nicht abstreiten. »Ich habe getan, was ich tun musste – und hatte gehofft, du würdest es nie erfahren. Aber jetzt kann man es nicht mehr aufhalten. Ich werde nicht zulassen, dass diese Opfer umsonst gewesen sind. Das bin ich den Kindern schuldig. Ich werde mich von niemandem aufhalten lassen, nicht einmal von dir. Und du wirst es versuchen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Kannst du dich noch an den Tag erinnern, bevor du in den Krieg gezogen bist?«
»Ja.«
»Weißt du noch, was du da zu mir gesagt hast?«
»Ja.«
»Ich glaube, du hast dich geirrt. Ich ähnle dir mehr, als du denkst.«
»Nein, Celia«, erwiderte ich und hielt ihre Halskette in die Höhe – die Halskette, die sie schon getragen hatte, als ich ihr zum
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