Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)
für den Platz des Frohlockens, wie die Fläche um den Magierhorst genannt wurde, Raum zu schaffen. Doch gegen diese Maßnahme hatte niemand etwas einzuwenden gehabt. Das war in den dunklen Tagen nach der großen Seuche gewesen, als die Zahl der Einwohner der Unterstadt drastisch gesunken war. Statt der Wohnhäuser wurde ein Irrgarten aus weißen Steinmauern errichtet, die den Turm umschlossen, jedoch nur hüfthoch waren, sodass jeder, der sich nicht zu blöd dabei vorkam, über die Mauern hopsen konnte. Als Kind hatte ich hier viele, viele Stunden verbracht, um allerlei Spiele zu machen, durch die Gänge zu schleichen oder auf Zehenspitzen oben auf der Mauer entlangzurennen.
Wahrscheinlich war dieser Platz der einzige Teil der Unterstadt, der vom üblichen Vandalismus verschont blieb. Zweifellos hatte der Ruf, den Blaureiher als einer der hochkarätigsten Magier des Landes genoss, einen gewissen Anteil daran, dass es nicht zu mutwilligen Zerstörungen kam. Doch Tatsache war, dass fast alle Einwohner der Unterstadt ihren Wohltäter vergötterten und Übergriffe auf sein Domizil nicht geduldet hätten. Wer in einer der Tavernen von den Docks bis zum Kanal schlecht von Blaureiher sprach, musste damit rechnen, zusammengeschlagen zu werden oder sogar ein Messer zwischen die Rippen zu bekommen. Er erfreute sich bei uns größter Beliebtheit, ja, man schätzte ihn mehr als Königin und Patriarch zusammengenommen, denn er sorgte für die Finanzierung von einem halben Dutzend Waisenhäusern und gab reichlich Almosen, die dankbar angenommen wurden.
Ich machte vor dem Haus meines ältesten Freundes halt und zündete mir eine Zigarette an. Der Wind hatte sich so weit gelegt, dass ich mir dieses kleine Vergnügen gönnen konnte. Es gab gute Gründe dafür, dass ich meinen Mentor fünf Jahre lang nicht besucht hatte, und während ich Tabakrauch in die kalte Luft blies, zählte ich die Gründe nacheinander auf, bis ihr Gewicht den Impuls, der mich hierhergeführt hatte, zu erdrücken drohte. Ich konnte diesem Schwachsinn immer noch ein Ende machen, konnte zum Torkelnden Grafen zurückkehren, Traumranke abdampfen und bis morgen schlafen. Doch als ich durch den ersten Torbogen trat, verblasste das Wunschbild von weichen Laken und farbigem Rauch, und meine Füße bewegten sich all meinen Instinkten zum Trotz vorwärts. Instinkten, die ich in letzter Zeit in hohem Maße zu ignorieren schien.
Ich bahnte mir meinen Weg durch den Irrgarten, wobei mir halb vergessene Erinnerungen zu Hilfe kamen und mich nach rechts oder links lenkten. Meine Zigarette ging aus, doch mir fehlte die Energie, sie wieder anzuzünden. Ich steckte die Kippe in meine Manteltasche, weil ich Blaureihers Hof nicht beschmutzen wollte.
Nachdem ich ein letztes Mal um die Ecke gebogen war, stand ich schließlich vor dem Eingang, dem Umriss einer Tür, die in die glatte azurblaue Mauer eingelassen war und weder einen Türklopfer noch sonst etwas aufwies, das einem helfen konnte, sich Einlass zu verschaffen. In einer Vertiefung über der Tür hockte ein Gargoyle – ebenso wie der Irrgarten aus weißem Stein bestehend –, dessen Maul zu etwas verzogen war, das eher an ein Grinsen als an eine furchterregende Grimasse erinnerte. Etliche Sekunden verstrichen. Ich war froh, dass niemand in der Nähe war, der Zeuge meiner Feigheit wurde. Schließlich entschied ich, dass ich den Irrgarten nicht umsonst durchquert haben sollte, und klopfte zweimal an die Tür.
»Sei gegrüßt, junger Mann.« Die Stimme, die Blaureiher seinem Wächter verpasst hatte, stimmte nicht so recht mit seiner Aufgabe überein, denn sie war heller und freundlicher, als man es von einer solchen Kreatur erwartet hätte. Langsam musterten mich die steinernen Augen von oben bis unten. »Obwohl du ja gar nicht mehr so jung bist. Der Meister ist benachrichtigt und wird dich im Dachgeschoss empfangen. Ich habe den Befehl, dir – solltest du kommen – jederzeit Zugang zu gewähren.«
Die Tür glitt auf. Das Gesicht des Gargoyles nahm einen blasierten Ausdruck an, eine beachtliche Leistung für ein aus Stein bestehendes Wesen. »Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass ich den Befehl jemals würde ausführen müssen.«
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was im Namen des Erstgeborenen Blaureiher wohl veranlasst haben mochte, dieses Wesen mit Sinn für Sarkasmus auszustatten. Schließlich herrschte unter den Menschen ja kein Mangel an Sarkasmus. Ich trat in die Eingangshalle, ohne etwas zu
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