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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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der graue Himmel spiegelte, und dachte an den Tag zurück, da ich zusammen mit fünftausend anderen Jugendlichen hier am Dock gestanden hatte, um an Bord eines Truppentransporters nach Gallia zu gehen. Meine Uniform hatte ich für ungemein schick gehalten, mein Stahlhelm hatte in der Sonne gefunkelt.
    Ich spielte mit dem Gedanken, mir einen Joint mit Traumranke zu drehen, entschied mich dann aber dagegen. Wenn man in bedrückter Stimmung ist, ist es keine gute Idee, sich zuzuknallen, weil Beklommenheit durch Traumranke eher gesteigert als abgebaut wird. Da mir die Einsamkeit zu schaffen machte, strebten meine Füße wie von selbst in Richtung Kirche. Offenbar würde ich doch an der Begräbnisfeier teilnehmen.
    Als ich ankam, hatte der Gottesdienst bereits angefangen. Auf dem Platz der göttlichen Güte drängten sich so viele Menschen, dass man das Podium kaum sehen konnte. Ich umging die Menge und schlich mich in eine Gasse, wo ich mich auf einen Stapel Kisten setzte. Ich war zu weit entfernt, um hören zu können, was der Hohepriester der Prachetas sagte, aber zweifellos war es sehr hübsch. Eine Position, in der man mit Gold verzierte Gewänder tragen darf, erreicht man nicht, ohne bei passender Gelegenheit sehr hübsche Dinge sagen zu können. Außerdem hatte der Wind so aufgefrischt, dass die meisten Anwesenden die Rede ebenfalls nicht hören konnten. Zuerst drängten sie sich weiter nach vorn und versuchten angestrengt, etwas von seinen Worten mitzubekommen. Als ihnen das nicht gelang, wurden sie unruhig. Kinder fingen an zu quengeln, Tagelöhner scharrten mit den Füßen, weil ihnen kalt war.
    Hinter dem Priester saß die Mutter des Mädchens auf dem Podium, in respektvoller Entfernung von zehn Schritt. Selbst auf diese Distanz konnte ich ihren Gesichtsausdruck erkennen. Es war ein Ausdruck, den ich im Krieg auf den Gesichtern von Jungen gesehen hatte, die Gliedmaßen verloren hatten: der Gesichtsausdruck eines Menschen, dem eine Wunde zugefügt worden war, die tödlich hätte sein sollen, es aber nicht war. Solch ein Ausdruck legt sich wie nasser Gips über das Gesicht und wird für immer der Haut aufgepfropft. Vermutlich würde die arme Frau diese Maske nie wieder ablegen können, es sei denn, die Qual würde so groß werden, dass sie sich in einer kalten Nacht die Pulsadern aufschnitt.
    Der Priester erreichte den Höhepunkt seiner Rede, zumindest kam es mir so vor. Ich konnte zwar nach wie vor nichts verstehen, doch seine pompösen Gesten und die gemurmelten Gebete der Menge schienen auf irgendeine Art von Klimax hinzuweisen. Ich versuchte, mir eine Zigarette anzuzünden, doch der Wind blies das Streichholz immer wieder aus. Nach einem halben Dutzend Streichhölzer gab ich es schließlich auf. Das passte zu dem ganzen Nachmittag.
    Dann war alles vorüber, die Rede gehalten, das Bittgebet gesprochen. Der Priester hielt die vergoldete Ikone der Prachetas in die Höhe und stieg vom Podium herab, gefolgt von den Trägern mit dem Sarg. Ein Teil der Menge schloss sich der Prozession an. Die meisten blieben jedoch zurück, denn es wurde immer kälter, und bis zum Friedhof war es ein langer Weg.
    Ich wartete, bis sich die Menge verzogen hatte. Dann erhob ich mich. Irgendwann während dieser Rede, die ich nicht gehört hatte, hatte ich beschlossen, mein selbst auferlegtes Exil aufzugeben, um zum Magierhorst zurückzukehren und mit Blaureiher zu sprechen.
    Scheißbegräbnisse. Scheißmutter. Scheißkind.

6
    Wie Sakra der Erstgeborene über Chinvat herrscht, so beherrscht der Magierhorst die Unterstadt – ein dunkelblauer, kerzengerader Turm, der sich markant vom Grau der umliegenden Wohn- und Lagerhäuser abhebt und weit in den Himmel ragt. Abgesehen vom Königspalast mit seinen mächtigen Wehranlagen und breiten Toren ist der Magierhorst das bemerkenswerteste Gebäude der Stadt. Seit nahezu dreißig Jahren dominiert er die Skyline und bildet einen prächtigen Kontrast zu den Slums, die ihn umgeben. In meiner Jugend war es mir ein Trost, einen sichtbaren Beweis dafür vor Augen zu haben, dass diese Umgebung nicht alles war, was es zu sehen gab – dass noch ein Bereich existierte, der rein und unverdorben war.
    Diese Hoffnung hatte sich natürlich als falsch erwiesen, aber das war einzig und allein mein Fehler. Schon seit Langem stellte der Turm nichts anderes als eine Erinnerung an die vertanen Chancen und törichten Hoffnungen eines törichten Jungen für mich dar.
    Man hatte einen ganzen Wohnblock abgerissen, um

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