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Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition)

Titel: Der Herr der Unterstadt: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Polansky
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erwidern.
    Der Eingangsbereich war klein, kaum mehr als eine Plattform für die lange, himmelwärts führende Wendeltreppe. Ich machte mich an den Aufstieg. Gleichmäßig über die Wand verteilte Leuchter, die ein klares weißes Licht verströmten, erhellten meinen Weg. Auf halber Höhe hielt ich an, um zu verschnaufen. Als Kind war mir das wesentlich leichter gefallen. Damals war ich die Treppe mit der Ausgelassenheit eines Menschen hochgestürmt, den die Nikotinsucht noch nicht fest im Griff hatte. Nach einer Weile ging ich weiter, bei jedem Schritt gegen den Drang ankämpfend umzukehren.
    Der größte Teil des Obergeschosses wurde von einem geräumigen Wohnzimmer eingenommen. Das Mobiliar war einfach und praktisch und machte das, was ihm an Opulenz fehlte, durch seine ästhetischen Formen wett. In die Wand, die diesen Bereich von den Privatgemächern des Meisters trennte, war ein Kamin eingelassen, vor dem zwei große Sessel standen. An der Einrichtung hatte sich nichts geändert, seit ich sie zum ersten Mal erblickt hatte. Ungebeten stellten sich Erinnerungen ein, Erinnerungen an Winternachmittage vor dem Kaminfeuer und an eine Kindheit, die man am besten vergaß.
    Zuerst nahm ich nur die Umrisse seiner Gestalt wahr, die sich von dem großen, nach Südosten – das heißt zum Hafen – gehenden Fenster abhoben. Bis in diese Höhe vermögen weder der Gestank noch der Lärm der Unterstadt zu dringen, sodass der Blick auf das in der Ferne liegende Meer durch nichts beeinträchtigt wird.
    Er drehte sich langsam um und legte seine welken Hände auf die meinen. Nur mit Mühe brachte ich es fertig, ihn anzusehen. »Es ist zu lange her, dass du hier warst«, sagte er.
    Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Blaureiher war immer verschrumpelt und klapperdürr gewesen, sein Kopf und sein knochiges Kinn mit spärlichen weißen Haaren bedeckt. Gleichzeitig hatte er jedoch auch immer eine erstaunliche Energie besessen, die sein Alter Lügen zu strafen schien. Davon war jetzt kaum noch etwas zu bemerken. Seine papierdünne Haut spannte sich über die Knochen, die Augen waren gelblich verfärbt. Wenigstens an seiner Kleidung hatte sich nichts geändert, denn er trug nach wie vor ein schlichtes Gewand, das wie alles andere in seiner Zitadelle von sattem Blau war.
    »Ich grüße dich, Magister«, erwiderte ich. »Ich weiß es zu schätzen, dass du mich ohne Voranmeldung empfängst.«
    »Magister? Begrüßt man so einen Mann, der dir Salbe auf deine zerschundenen Knie gerieben und dir heiße Schokolade gemacht hat, damit du nicht mehr frierst?«
    Offensichtlich würde er es mir nicht leicht machen. »Ich dachte, es sei unangebracht, auf die Vertrautheit früherer Zeiten zurückzugreifen.«
    Seine Miene verfinsterte sich, und er verschränkte die Arme. »Ich kann nachvollziehen, wie sehr es dir widerstrebt hat, hierher zurückzukehren – schon als Kind warst du stolzer als so mancher Höfling. Aber unterstell mir nicht, dass ich mich von dir abgewandt hätte oder es je tun würde. Selbst nachdem du den königlichen Dienst verlassen und deine neue … Tätigkeit aufgenommen hattest, habe ich das nicht getan.«
    »Du meinst, nachdem ich meines Amtes enthoben worden war und anfing, auf der Straße Drogen zu verkaufen?«
    Er seufzte. Mir fiel ein, dass er diesen Laut immer dann von sich gegeben hatte, wenn ich mich geprügelt hatte und mit einem blauen Auge ankam oder wenn ihm klar wurde, dass ich ein neues Spielzeug, mit dem er mich sah, gestohlen hatte. »Ich habe jahrelang versucht, dir diese Angewohnheit abzugewöhnen.«
    »Was für eine Angewohnheit?«
    »Dass du alles gleich als Beleidigung auffasst. Das ist ein Zeichen niederer Herkunft.«
    »Ich bin niederer Herkunft.«
    »Du könntest dir mehr Mühe geben, es zu verbergen.« Er lächelte, und unwillkürlich musste auch ich lächeln. »Wie dem auch sei, du bist wieder da, aber sosehr ich mich darüber freue, drängt sich mir doch die Frage auf, welchem Grund ich die Rückkehr meines verlorenen Sohnes verdanke. Es sei denn, du bist nach fünf Jahren einzig und allein darum wiederaufgetaucht, um dich nach meinem Befinden zu erkundigen.«
    In meiner Kindheit war Blaureiher mein Wohltäter und Beschützer gewesen und hatte mir viel Gutes erwiesen, zumindest soweit der widerborstigste Straßenbengel der Unterstadt dies überhaupt zuließ. Als Ermittlungsbeamter hatte ich mich oft an ihn gewandt, um seinen Rat einzuholen und ihn um Hilfe zu bitten, die nur er mit

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