Der Herr des Traumreichs
leicht. Auch Garth beugte den Oberkörper, ohne zu wissen, ob der Mönch das von ihm erwartete, und schwieg verlegen.
»Ein herrlicher Tag«, sagte der Mönch. »Vielleicht sogar zu warm, sonst wärt Ihr wohl nicht hereingekommen, um Euch das wenige anzusehen, das wir zu bieten haben. Ich bin Bruder Harrald.« Er reichte Garth die Hand.
Garth schüttelte sie rasch. »Garth Baxtor.«
»Nun, Garth Baxtor. Ihr wirkt ein wenig hilflos. Was kann ich für Euch tun?«
»Nun…« Garth unterließ es gerade noch, das Medaillon unter seinem Hemd zu betasten. »Ich habe etwas auf dem Herzen.«
»Und das wäre?« lächelte Bruder Harrald. Garth hörte keine Spur von Herablassung aus seinen Worten und war erleichtert.
»Es geht… nun, eigentlich um eine Legende.«
Bruder Harrald zog die Augenbrauen hoch.
»Genauer gesagt: um den Manteceros«, vollendete Garth und wartete gespannt auf die unvermeidliche Frage, warum er sich gerade mit dem Fabeltier beschäftige.
Doch die Frage blieb aus. Bruder Harrald sagte nur »Aha«, und seine Augen leuchteten auf. »Eine faszinierende Geschichte. Was wollt Ihr denn genau wissen?«
Garth lächelte verlegen. »So gut wie alles. Aber«, fuhr er hastig fort, »vor allem möchte ich erfahren, ob dieses Wesen jemals existiert hat. Könnt Ihr mir das sagen?«
»Ich persönlich nicht, Garth, aber die Frage klingt spannend und verheißt eine Suche, mit der wir uns den ganzen Nachmittag vertreiben können. Am besten machen wir uns sofort ans Werk.« Er drehte sich um und winkte dem Jungen, ihm zu folgen. »Kommt mit mir!«
Auf dem Weg durch die Halle hob Garth den Kopf und bewunderte die prächtige smaragdgrüne Kuppel. Bis auf das leise Schlurfen ihrer Schritte und ein gedämpftes Murmeln aus einem kleinen Raum an der Seite war alles still. Ohne die Stimmen hätte er geglaubt, mit Harrald in dem Gebäude allein zu sein.
Der Mönch verschwand durch eine Tür am anderen Ende.
Garth trat ebenfalls ein, doch dann blieb er wie verzaubert stehen und sah sich um. Vor ihm lag ein riesiger Saal mit fünfzig Schritt hohen rechteckigen Fenstern, die von der Decke bis zum Boden reichten. Darüber wölbte sich eine Silberkuppel mit einem Glaseinsatz. Weiches goldenes Licht, von Stäubchen durchsetzt, fiel in breiten Bändern auf zahllose Reihen von Bücherregalen in der Mitte des Raums. An den Wänden standen Vitrinen, hinter deren Glastüren die Schriftrollen kreuz und quer übereinander lagen. Garth fand dieses Durcheinander irgendwie beruhigend; die achtlos in die Schränke gestopften Pergamente schienen nur darauf zu warten, daß eine ordnende Hand kam und ihre Geheimnisse lüftete. Sie machten die Bibliothek einladender und freundlicher.
Der Saal war nahezu leer; an einer Seite umstanden mehrere Mönche ein großes aufgeschlagenes Buch auf einem Ständer und debattierten erregt über eine Textstelle, und weiter hinten schritten zwei ältere Männer, Gelehrte vielleicht, die Bücherreihen ab.
»Wir beide sind heute nachmittag mit einem Abstand von einem halben Jahrhundert die Jüngsten hier«, flüsterte Harrald, und seine Augen funkelten verschmitzt. »Was immer wir an Geheimnissen entdecken, wir werden uns noch daran erinnern, wenn alle anderen hier längst die Freuden des Jenseits genießen.«
Harrald bog nach links in einen Gang ein. »Hat irgend jemand alle diese Bücher gelesen?« fragte Garth und eilte ihm nach.
»Kein Mensch liest jemals alle Bücher, man liest nicht einmal ein Buch ganz«, sagte Harrald nachdenklich. Er ging langsam die Reihen entlang und fuhr dabei mit dem Finger über die Buchrücken mit den goldglänzenden Schriftzeichen.
Die Einbände leuchteten in satten Blau-, Rot-und Grüntönen.
»Bücher sind wie Schlüssel oder Türen. Man beginnt zu lesen und findet mittendrin einen Schlüssel zu einer anderen Tür.
Diese neue Entdeckung, die andere Tür, ist zu verlockend, also läßt man das Buch liegen, ohne alle seine Geheimnisse erforscht zu haben, und geht weiter den Gang entlang. Bald säumen halb gelesene Bücher und offene Türen den Weg des Lebens.« Er lächelte. »Bruder Nestor, einer unserer Mönche, spricht vom Lockruf der Schwelle. Wer diesem Ruf einmal gefolgt ist, kommt nie wieder davon los. Es gibt immer noch eine Schwelle zu überschreiten.«
Garth betrachtete die Bücher mit neuer Ehrfurcht. Dann hob er wie Harrald die Hand und fuhr mit den Fingern leicht über die Einbände. Sie fühlten sich warm und lebendig an, nicht trocken und dumpf, wie er
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