Der Herr des Traumreichs
erwartet hatte. Welche Geheimnisse mochten sie verbergen? Welche Verführungen mochten auf ihren Seiten lauern?
»Aha!« Harralds Stimme riß Garth aus seinen Gedanken.
»Das wäre doch schon einmal ein Anfang.«
Garth warf einen neugierigen Blick auf das Buch, das Harrald vom Bord genommen hatte. Der Einband war im königlichen Blau gehalten, und auf dem Deckel prangte in großen Lettern der Titel ›Geschichte der Könige von Escator‹.
Harrald ging damit zu einem der Lesetische an der Wand.
Garth eilte ihm hinterher. Er konnte es kaum erwarten, mit dem Lesen zu beginnen. Seine Seele war dem Lockruf der Schwelle bereits verfallen. Er schob sich neben Harrald auf die Bank.
Der Mönch schlug das Buch auf und überflog leise murmelnd das Inhaltsverzeichnis. Garth hatte kaum die ersten Kapitelüberschriften gelesen, als Harrald schon vierzig oder fünfzig Seiten weiter blätterte.
»Hier!« rief er endlich. »Folio neunundvierzig verso. ›Die Riten und Bräuche der escatorianischen Monarchie und ihre Ursprünge.‹« Wieder begann er vor sich hin zu murmeln, und sein Finger glitt schneller über die Seite, als Garth ihm folgen konnte.
Er zappelte vor Ungeduld. »Und?«
»Wartet, wartet«, murmelte Harrald. »Ach ja, da kommt es.
›Der Manteceros: Seine Herkunft und seine Vorgehensweise.‹«
»Seine Vorgehensweise?« fragte Garth verwirrt, aber Harrald schenkte ihm keine Beachtung.
»Eigenartig«, sagte er langsam. »Hört Euch das an.« Und er begann laut zu lesen:
Acht Generationen, nachdem das Haus Persimius…
»Das ist die Linie, die erst vor kurzem ausgestorben ist«, erklärte er, und Garth nickte ungeduldig. Er hätte den Text lieber selbst gelesen, aber Harrald verdeckte die verblaßte Schrift zum Teil mit seiner Hand.
… den Thron von Escator übernahm, erwählte es den Manteceros zu seinem Emblem. Nennius seligen Angedenkens war der erste König, der den Manteceros im Wappen führte –
er behauptete, das Wesen habe im Traum zu ihm gesprochen –
und er trug auch als erster das Mal, das nur dem regierenden König und seinem Erben zusteht. Bisweilen führte er Zwiesprache damit. Historiker sind sich uneins, warum Nennius den Manteceros zum Vertreter und Beschützer seines Geschlechts erwählte. Nennius schwieg sich über seine Gründe beharrlich aus – sogar noch auf dem Totenbett. Man sagt, er habe nur gelacht, wenn ihn jemand danach fragte.
Harrald hielt inne und klopfte mit dem Finger auf die Seite.
»Mehr steht da nicht?« fragte Garth mit leiser Unzufriedenheit. »Damit kann ich gar nichts anfangen.«
Harrald sah ihn an, hielt aber seine Fragen zurück. »Nur noch wenige Zeilen.«
Seit Nennius dient der Manteceros dem stolzen Geschlecht derer von Persimius als Wappentier. Schon viele Generationen lang flattert er von den Mastspitzen und über den Burgtoren.
Nur der König und sein Erbe sind eingeweiht in seine Geheimnisse (und nur Nennius kannte sie alle), und so will auch der Autor darüber schweigen, um sich seiner Unwissenheit nicht schämen zu müssen.
Garth lehnte sich zurück. Er war bitter enttäuscht. Das hieß, von allen lebenden Menschen kannten nur Cavor und Maximilian die Geheimnisse des Manteceros; und Maximilian irrte unerkannt in den Glomm-Minen umher und verleugnete sich sogar selbst, während Cavor sich hüten würde, Geheimnisse preiszugeben, die ihn den Thron kosten konnten.
»Aber das ist nur ein trockenes Geschichtsbuch«, sagte Harrald leise, als er sah, wie sich Garths Gesicht verdüstert hatte. »Vielleicht finden wir noch etwas Besseres für Euch.
Kommt mit!«
Er stellte das Buch an seinen Platz zurück und streifte weiter die Gänge auf und ab. Garth folgte ihm, doch seine Begeisterung war deutlich abgekühlt. Endlich wählte Harrald ein weiteres, diesmal sehr viel dünneres Buch. Der uralte rote Einband war verschossen und von Wasserflecken verunstaltet.
Harrald schnalzte empört mit der Zunge, als sie sich wieder an den Lesetisch setzten. »Einer der früheren Bibliothekare ließ wohl die nötige Sorgfalt vermissen. Dann wollen wir einmal sehen.«
Er schlug das Buch auf, und Garth las den Titel:
›Escatorianisches Bestiarium – Fakten und Rätsel. Untersucht und aufgezeichnet von Gregorius dem Weisen, Geschichtsschreiber und Ratgeber der Könige und der Götter.‹
Harrald beobachtete ihn lächelnd. »Gregorius war offenbar sehr von sich überzeugt. Keiner unserer demütigeren Brüder.
Immerhin war er ein Zeitgenosse von Nennius,
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