Der Herr des Traumreichs
geworden und hätte sich die Hacke in den eigenen Schädel gehauen.
Die Bibliothek
Lange stand er so da, betastete mit der Hand das Medaillon unter dem Hemdstoff und bemühte sich, in dem eben Erlebten einen Sinn zu finden.
Rufet den Traum, hatte Maximilian verlangt.
Helft ihm, den Traum zu suchen, hatte ihn der merkwürdige Mann mit dem schwarzen Haar beschworen.
Und dann hatte er ihm diesen Anhänger mit dem Bild des Manteceros geschenkt.
Garth sah sich um, ob ihn jemand beobachtete, dann zog er das Medaillon unter dem Hemd hervor und betrachtete es. Es war sehr schlicht gearbeitet, aber gerade das machte seine Wirkung aus. Er fuhr mit dem Zeigefinger die Umrisse des blauen Manteceros nach und dachte dabei, es sei doch sonderbar, daß sich ein Königshaus gerade dieses Geschöpf zum Wappentier erwählte. Der Manteceros war geradezu häßlich, auf jeden Fall plump, und ganz sicher weder kriegerisch noch besonders edel. Er hatte etwa die Größe und die Gestalt eines Pferdes, aber sein Körper war unförmig, und die Beine waren dick wie Baumstämme. Der klobige Kopf saß auf einem viel zu dünnen Hals. Die Stachelmähne und der dünne Quastenschwanz waren nur angedeutet. Garth schüttelte den Kopf. Andere Königshäuser wählten sich Bären oder Drachen oder gar eine von den großen Raubkatzen als Wappentier. Wieso hatte sich das Königsgeschlecht von Escator für dieses seltsame Geschöpf entschieden?
Zum ersten Mal überlegte Garth, welcher Gattung es denn eigentlich angehöre, und dann lachte er laut über sich selbst. Er hatte doch tatsächlich unterstellt, es handle sich um ein reales Wesen.
Garth hörte selbst, daß sein Lachen nicht echt klang, er verstummte wieder, und seine braunen Augen wurden nachdenklich.
Er brauchte also nur einen Traum zu suchen, das war alles.
»Und«, murmelte er, »wo soll ich nun diesen Traum finden?«
Er blickte auf und zuckte zum wiederholten Mal an diesem Tag überrascht zusammen.
Er hatte auf seiner überstürzten Flucht vom Marktplatz genau vor der großen Bibliothek von Narbon innegehalten, einem eindrucksvollen Gebäude mit Kolonnaden aus weißem Marmor. Schreibfedern und Schriftrollen, in Stein gehauen, schmückten die große Säulenhalle vor dem Eingang. Garth wußte, daß sein Vater schon in diesem Gebäude gewesen war, er selbst hatte es nie betreten. Es war Eigentum der Stadt und wurde von einem Geheimorden verwaltet, der dafür sorgte, daß Bücher und Schriftrollen nicht verstaubten oder von Leuten mit klebrigen Fingern beschmutzt wurden.
Garth sah an den Mauern empor und versteckte das Medaillon wieder unter seinem Hemd. An sich hatte jeder Bürger Zutritt zur Bibliothek – Bücher und Schriftrollen wurden allerdings nur von den Mönchen herausgegeben –, aber Garth hatte bisher weder Lust verspürt noch die Notwendigkeit gesehen, sich hier aufzuhalten.
Was er an Büchern brauchte, fand sich auf den Regalen in den Behandlungsräumen seines Vaters, und seine Mutter kannte so viele Märchen und Sagen, daß an den Abenden für Unterhaltung gesorgt war.
Welcher Junge hockte sich schon in eine Bibliothek, wenn draußen ein spannendes ReifenballSpiel winkte?
Garth trat von einem Fuß auf den anderen. Wenn er Maximilian befreien wollte, mußte er den Manteceros finden –
und der lebte, soweit er wußte, nur in der Legende. Gab es einen besseren Ort, nach einer Legende zu suchen, als eine Bibliothek? Vielleicht könnte ihm einer von den Mönchen behilflich sein?
Wenn sie mich nicht gleich mit Besen und Staubtuch aus ihren geheiligten Lesesälen jagen, dachte er trocken, überquerte langsam die Straße und blieb unter den Kolonnaden stehen. Eine breite Marmortreppe führte nach oben. Die Türen standen offen, und letztlich war es das, was ihn bewog, sein Glück zu versuchen. Wären sie geschlossen gewesen, er hätte wohl kehrtgemacht und wäre nach Hause gegangen, um für den Rest des Nachmittags seiner Mutter zu helfen.
Garth stand unschlüssig in der kühlen, weitläufigen Vorhalle, als ein Mönch auf ihn zukam, dessen Aussehen ihn überraschte. Er hatte bisher geglaubt, alle Mönche seien alt, fett und ein wenig verrückt, doch dieser Mann war nur fünf oder sechs Jahre älter als er selbst, und sein freundliches Lächeln und die warmen hellbraunen Augen vertrugen sich schlecht mit dem strengen Habit.
Garth starrte ihn zunächst mit offenem Mund an, dann besann er sich auf seine guten Manieren. Der Mönch blieb vor ihm stehen und verneigte sich
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