Der Herr des Traumreichs
hatte schon die Hand in die Hosentasche gesteckt, da hielt er verwirrt inne.
Der Händler hatte ihn am Arm gepackt und starrte ihn aus flammenden Augen durchbohrend an. Garth trat einen Schritt zurück, aber der Mann ließ nicht locker. »Was ist? Wer seid…«
»Wer oder was ich wirklich bin, tut nichts zur Sache«, zischte der Händler. »Behaltet das Medaillon. Ich schenke es Euch.
Falls Ihr den Toten gefunden habt, so vergeßt ihn nicht! Helft ihm, den Traum zu suchen, mein Junge, helft ihm!«
Auf dem Markt ging es hoch her, aber um Garth und den schwarzhaarigen Fanatiker war es so still, als stünden sie auf einer Insel. Der Händler – falls es ein Händler war – griff hinter sich und zog ein Lederband aus einer kleinen Reisetasche. »Da, nehmt das und bindet Euch das Medaillon damit um den Hals.«
Garth war nach der Bemerkung über den Traum wie benommen. Er nahm das Band und fädelte es langsam durch den kleinen Ring am oberen Rand des Schmuckstücks. Der Schwarzhaarige war sichtlich erleichtert, als das Medaillon um Garths Hals lag. »Gut, sehr gut. Schiebt es Euch nun unter das Hemd. Ja, genau so.«
Garth spürte die kühle Scheibe auf der Brust und konnte sie unter dem Stoff ertasten. »Wer…«, begann er, doch als er den Kopf hob, zuckte er vor Schreck zusammen.
Der Stand vor ihm war leer, die Segeltuchplane flatterte traurig im Wind. Nichts war geblieben, kein einziges Stück Ware, nicht einmal das Tuch über dem Brettergestell.
Und auch der große, hagere Mann war spurlos verschwunden.
Garth zitterte und wich langsam zurück.
»He, du da! Kannst du nicht achtgeben!«
Er sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, um nicht von einem schwerbeladenen Fuhrwerk überfahren zu werden. Der Fahrer drohte ihm zornig mit der Faust.
Garth drehte sich um und rannte über den Marktplatz und durch die Gassen dahinter, bis er völlig außer Atem war – doch als er endlich stehenblieb und sich an eine Wand lehnte, um Luft zu holen, spürte er immer noch das Medaillon auf seiner Brust.
In der ewigen, stickigen Finsternis schwang Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig seine Hacke und hieb sie vor sich in die Felswand. Glommstücke polterten zu Boden –
Achthundertneunundfünfzig stand schon knöcheltief in den Teerbrocken. Hoffentlich schaufelte ihm die Kolonne, die das Glomm in den Förderstollen schaffen mußte, das Zeug unter den Beinen weg, bevor er darin ertrank. Zu seiner Linken schuftete Sträfling Nummer fünfundsechzig; zu seiner Rechten befand sich die Stollenwand.
Achthundertneunundfünfzig war der dienstälteste Sträfling –
einfach deshalb, weil er im Gegensatz zu den anderen immer weitergelebt hatte – und genoß deshalb das Privileg, an der Spitze der Kolonne zu arbeiten. Dadurch hatte er etwas mehr Freiheit und konnte sich besser in sich zurückziehen. Wenn er den Kopf nach rechts drehte, war er allein mit seinen Gedanken.
Und mit dem schwarzen Fels.
Immer wieder hob er die Hacke, seine Muskeln zogen sich im immergleichen Rhythmus zusammen, schwarzer Staub wirbelte auf und setzte sich auf seinem Körper ab. Die Schicht über dem Verband an seinem rechten Arm war so dick, daß der Stoff von seiner ebenso schwarzen Haut nicht mehr zu unterscheiden war.
Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig hatte den Verband, den ihm der Junge angelegt hatte, seit jenem Tag nicht abgenommen. Er wußte nicht einmal, warum er das nicht getan hatte. Er hatte den Jungen als lästigen Störenfried empfunden, der ihn mit seinen Fragen und Unterstellungen nur quälte. Mit seiner beharrlichen Versicherung, über Tage gebe es eine Welt – eine Welt, in die zurückzukehren sich lohne –, hatte er Achthundertneunundfünfzig tief erschüttert. Seither störten Träume die kurzen Stunden des Schlafs, die ihm vergönnt waren, Träume von Landschaften, von Winden durchweht, die doch nur Ausgeburten seiner Phantasie sein konnten.
Denn Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig wußte, daß es über Tage keine Welt gab. Er wußte es ganz sicher.
Außer den rhythmischen Schwüngen seiner Hacke und dem rieselnden Glomm gab es nichts, nichts, nichts. Nichts als die Felswand vor ihm und die Finsternis rechts von ihm. Nichts als die fluchenden, schwitzenden, sterbenden Männer, die an seinen linken Fuß gekettet waren.
Sträfling Nummer achthundertneunundfünfzig hatte keine Vorstellung, wie lange er schon unter der Erde gefangen war.
Hätte ihm jemand siebzehn Jahre zugemurmelt, er wäre wahnsinnig
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