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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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war der von Missionaren in Paraguay gegründete totalitäre sozialistische Jesuitenstaat. Er verband ein Höchstmaß an Egalitarismus mit einem Höchstmaß an Unfreiheit und ließ sich nur mit einem Höchstmaß an Angst aufrechterhalten. Das hätte jedem, der die menschliche Spezies zu perfektionieren suchte, eine Warnung sein sollen. Doch dieser Wunsch – die Wurzel und die Quelle des totalitären Antriebs – ist im Wesentlichen ein religiöser.
    George Orwell, der asketische Atheist, dessen Romane uns eine bleibende Vorstellung davon vermitteln, wie sich das Leben in einem totalitären Staat anfühlen könnte, hegte da keinerlei Zweifel. »Vom totalitären Standpunkt«, schrieb er 1946 in seinem Essay »Zur Verhinderung der Literatur«, »ist Geschichte eher etwas, das immer neu geschaffen statt gelehrt werden muss. Der totalitäre Staat ist praktisch eine Theokratie, und seine herrschende Klasse muss als unfehlbar erscheinen, um ihre Position zu behaupten.« [FUSSNOTE60]
    Man beachte, dass er dies in einem Jahr schrieb, in dem er nach zehn Jahren Kampf gegen den Faschismus seine Geschütze stärker auf die Sympathisanten des Kommunismus ausrichtete.
    Wer der totalitären Denkart anhängt, muss nicht unbedingt eine Uniform tragen und eine Keule oder eine Peitsche bei sich führen. Er muss nur seine eigene Unterwerfung wollen und sich an der Unterwerfung anderer erfreuen. Ein totalitäres System fordert nichts anderes als die unterwürfige Glorifizierung eines perfekten Führers, die Hingabe aller Privatheit und Individualität, insbesondere in Fragen der Sexualität, und die Denunzierung und Bestrafung von Sündern – zu ihrem eigenen Wohle natürlich. Das sexuelle Element ist wahrscheinlich entscheidend, denn die enge Verbindung zwischen Repression und Perversion, die schon Nathaniel Hawthorne in Der scharlachrote Buchstabe beschrieb, erschließt sich auch dem behäbigsten Beobachter.
    In der frühen Menschheitsgeschichte war das totalitäre Prinzip gang und gäbe. Die Staatsreligion gab eine umfassende und »totale« Antwort auf sämtliche Fragen, von der Stellung in der sozialen Hierarchie bis hin zu Regelungen in Sachen Ernährung und Sexualität. Sklave oder kein Sklave, der Mensch war Eigentum, und die Geistlichkeit stärkte den Absolutismus. Orwells originellste Projektion der totalitären Idee – das »Gedankenverbrechen« – war eine ständige Gefahr. Ein unreiner Gedanke, zumal ein häretischer, konnte dazu führen, dass dem Betreffenden bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen wurde. Wer beschuldigt wurde, von Dämonen besessen zu sein oder mit dem Bösen in Kontakt zu stehen, wurde unweigerlich auch verurteilt. Wie höllisch das Ganze war, erkannte Orwell schon in seiner von christlichen Sadisten geführten Schule, in der man nie wissen konnte, wann man gegen die Regeln verstoßen hatte. Egal was man tat und wie vorsichtig man auch war – dauernd holten einen Sünden ein, von denen man gar nichts wusste.
    So eine grauenhafte Schule lässt man irgendwann hinter sich – traumatisiert fürs Leben, wie Millionen anderer Kinder –, doch der Welt der Erbsünde, der Schuldkomplexe und des Schmerzes kann man nach religiös-totalitärer Sichtweise nicht entkommen. Nach unserem Tod erwarten uns unzählige Strafen. Extreme religiöse Totalitaristen wie Johannes Calvin, der seine furchtbare Doktrin dem Augustinus entlehnt, behaupten, dass schon vor unserer Geburt unendlich viele Strafen auf uns warten können. Vor langer Zeit sei festgelegt worden, welche Seelen erwählt werden sollen, wenn die Zeit komme, die Schafe von den Ziegen zu trennen. Gegen dieses einstige Urteil sei kein Einspruch möglich, und keine guten Werke oder Glaubensbekundungen könnten den retten, der nicht das Glück habe, erwählt zu sein. Calvins Genf war der Inbegriff eines totalitären Staates, Calvin selbst ein Sadist, Folterer und Mörder, der Michael Servetus, einen der großen Denker und Gelehrten seiner Zeit, bei lebendigem Leib verbrennen ließ. Welches Elend Calvins Anhängern durch die lebenslange Sorge darum auferlegt wurde, ob sie nun erwählt waren oder nicht, ist in George Eliots Adam Bede ebenso treffend dargestellt wie in einer alten englischen Satire gegen andere Sekten, von den Zeugen Jehovas bis hin zu den Brüdern von Plymouth, die waghalsig behaupteten, sie seien die Auserwählten und ihnen allein sei die genaue Zahl derer bekannt, die dem Fegefeuer entrissen würden:
    Wir sind die Reinen, auserkoren, verdammt sind

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