Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
alle andern. Die dürfen in der Hölle schmoren, wir in den Himmel wandern.
Das Leben eines harmlosen, aber ängstlichen Onkels von mir wurde genau auf diese Art ruiniert. Heute gehört Calvin scheinbar einer fernen Vergangenheit an, doch diejenigen, die in seinem Namen Macht an sich rissen und ausübten, weilen unter sanfteren Bezeichnungen wie Presbyterianer und Baptisten noch unter uns. Der Impuls, Bücher zu zensieren und zu verbieten, Abweichler zum Schweigen zu bringen, Außenseiter zu verdammen, in die Privatsphäre anderer einzudringen und sich auf eine exklusive Erlösung zu berufen, liegt im Wesen des Totalitarismus. Der Fatalismus im Islam, nach dem Gott alles im Voraus festgelegt hat, bietet hier einige Anknüpfungspunkte, denn auch er leugnet die menschliche Autonomie und Freiheit gänzlich und vertritt die arrogante Überzeugung, dass sein Glaube alles umfasst, was ein Mensch wissen muss.
Als sie im Jahr 1950 die große antitotalitäre Anthologie des 20. Jahrhunderts veröffentlichten, mussten die beiden Herausgeber über den passenden Titel nicht lang nachdenken. Sie nannten sie The God That Failed (dt. Ein Gott, der keiner war]. Einen der beiden kannte ich persönlich, weil ich hin und wieder für ihn arbeitete: den britischen Sozialisten Richard Crossman. In der Einleitung zu dem Buch schreibt er:
Für den Intellektuellen sind materielle Annehmlichkeiten verhältnismäßig unwichtig; er legt am meisten Wert auf die geistige Freiheit. Die Stärke der katholischen Kirche hat immer darin gelegen, dass sie ein kompromissloses Opfer dieser Freiheit verlangt und den geistigen Hochmut als eine Todsünde verdammt. Der kommunistische Novize, der seine Seele dem kanonischen Gesetz des Kremls unterwirft, empfand etwas von der Erlösung, die der Katholizismus ebenfalls den vom Vorrecht der Freiheit ermatteten und geplagten Intellektuellen bringt. [FUSSNOTE61]
Das einzige Buch, das bereits im Vorfeld, nämlich ganze dreißig Jahre davor, vor dieser Entwicklung gewarnt hatte, war ein schmales, aber hervorragendes Bändchen, das 1919 unter dem Titel The Practice and Theory of Bolshevism herauskam (dt. Die Praxis und Theorie des Bolschewismus). [FUSSNOTE62]
Lange bevor Arthur Koestler und Richard Crossman im Rückblick die Trümmer begutachteten, wurde darin mit einer bis heute bewundernswerten Weitsicht die gesamte Katastrophe vorhergesagt. Der sarkastische Analyst der neuen Religion, Bertrand Russell, war als Atheist weitaus hellsichtiger als viele naive »christliche Sozialisten«, die in Russland die Anfänge eines neuen irdischen Paradieses zu erkennen meinten. Seine Weitsicht überstieg auch die der anglikanischen Kirche seines Heimatlandes England, wo die anerkannte überregionale Zeitung, die Londoner Times, die russische Revolution aus den Protokollen der Weisen von Zion erklärte. Diesen ungeheuerlichen, von russisch-orthodoxen Geheimpolizisten fabrizierten Text legte übrigens die offizielle Druckerei der anglikanischen Kirche, Eyre & Spottiswode, neu auf.
Wenn man bedenkt, wie lange die Religionen schon Diktaturen auf Erden zuarbeiten und die absolute Kontrolle im Jenseits ankündigen, wie sind sie da mit den »säkularen« totalitären Regimen unserer Zeit umgegangen? Betrachten wir zunächst in dieser Reihenfolge den Faschismus, den Nationalsozialismus und den Stalinismus.
Die Bewegung des Faschismus, Vorläufer und Modell des Nationalsozialismus, glaubte an eine organische und korporative Gesellschaft mit einem Führer – die Fasces, das um eine Axt gebundene Rutenbündel der Liktoren im alten Rom, symbolisierten Einheit und Autorität. Die aus dem Elend des Ersten Weltkriegs und einem Gefühl der Erniedrigung erstandenen faschistischen Bewegungen wollten die traditionellen Werte gegen den Bolschewismus verteidigen und hielten Nationalismus und Frömmigkeit hoch. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sie zuerst und mit besonderer Inbrunst in katholischen Ländern auftauchten, und ganz sicher ist es kein Zufall, dass die katholische Kirche dem Faschismus als Idee allgemein wohlwollend gegenüberstand. Die Kirche betrachtete den Kommunismus als ihren Todfeind, zumal sie in den höchsten Rängen von Lenins Partei auch noch ihren alten jüdischen Feind sitzen sah. Benito Mussolini hatte in Italien kaum die Macht an sich gerissen, als der Vatikan mit den Lateranverträgen von 1929 schon ein offizielles Bündnis mit ihm einging. Diese Verträge regelten, dass der Katholizismus zur einzigen
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