Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
von Laplace wissen, warum Gott in seinen revolutionären Berechnungen nicht vorkam. Die kühle und wohlüberlegte Antwort lautete: »Je n'ai pas besoin de cette hypothèse.« Laplace, ein Marquis, hätte auch etwas bescheidener sagen können: »Es funktioniert auch ohne diese Vorstellung recht gut, Eure Majestät.« Er aber erklärte schlicht, dass er sie nicht brauche.
Wir auch nicht. Es ist kein besonderer Moment festzumachen, in dem der Verfall, der Zerfall, der Verruf der Gottesverehrung seinen Lauf nahm, wie etwa Nietzsches theatralische und widersprüchliche Aussage, Gott sei tot. Nietzsche konnte ebenso wenig wissen oder auch nur vermuten, dass Gott je gelebt hatte, wie ein Priester oder Schamane wissen konnte, was Gott will. Das Ende der Gottesverehrung manifestierte sich vielmehr in einem Moment, der erst im Nachhinein erkennbar wurde, nämlich dem, in dem sie fakultativ und nur noch eine von mehreren Alternativen war. Im überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte, das sei betont, gab es keine solche Wahl. Aus vielen Fragmenten ihrer verbrannten und verstümmelten Texte und Beichten wissen wir, dass es immer zweifelnde Menschen gegeben hat. Doch seit Sokrates für die Verbreitung seines ungesunden Skeptizismus zum Tode verurteilt wurde, galt es als unklug, auf seinen Spuren zu wandeln. Für Milliarden von Menschen aller Epochen stellte sich die Frage auch einfach nicht. Baron Samedi genoss in Haiti das gleiche Monopol, gegründet auf dem gleichen brutalen Zwang, wie einst Johannes Calvin in Genf oder Massachusetts; diese Beispiele habe ich gewählt, weil sie, bezogen auf die Menschheitsgeschichte, erst gestern auftauchten. Viele Religionen kommen heute schmeichlerisch lächelnd mit ausgebreiteten Armen auf uns zu wie schmierige Händler auf einem Basar. Im Wettbewerb mit anderen Marktschreiern versprechen sie uns Trost, Solidarität und Läuterung. Aber wir dürfen daran erinnern, wie barbarisch sie sich aufgeführt haben, als sie noch stark waren und den Menschen ein Angebot machten, das sie nicht ablehnen konnten. Wer vergessen hat, wie das gewesen sein muss, kann sich einfach die Staaten und Gesellschaften ansehen, in denen die Geistlichkeit noch über die Macht verfügt, ihre Bedingungen zu diktieren. In modernen Gesellschaften sind noch Spuren davon erkennbar, etwa in den Bemühungen vonseiten der Religion, die Bildung unter ihre Kontrolle zu bekommen, sich Steuerfreiheit zu verschaffen oder es den Menschen gesetzlich zu verbieten, ihre allmächtige und allwissende Gottheit oder auch nur deren Propheten zu verunglimpfen.
In unserem neuen halbsäkularen Zwischenstadium sprechen sogar die Vertreter der Religionen beschämt über die Zeit, da Theologen mit fanatischer Inbrunst unsinnige Fragen diskutierten; wie lang der Flügel eines Engels sei oder wie viele dieser mythischen Geschöpfe auf dem Kopf einer Stecknadel tanzen können. Natürlich ist es schrecklich, wie viele Menschen in Scheingefechten über die Heilige Dreifaltigkeit, den muslimischen Hadith oder die Ankunft eines falschen Messias gefoltert und ermordet, wie viele Quellen der Weisheit den Flammen übergeben wurden. Aber wir wollen uns nicht im Relativismus oder der, wie E.P. Thompson es nannte, »Überheblichkeit der Nachwelt« ergehen. [FUSSNOTE15]
Die scholastischen Eiferer des Mittelalters gaben ihr Bestes, wenn man ihr hoffnungslos beschränktes Wissen, die allgegenwärtige Furcht vor dem Tod und dem Jüngsten Gericht, die niedrige Lebenserwartung und den Analphabetismus ihres Publikums berücksichtigt. Sie lebten in aufrechter Angst vor den Folgen ihrer Irrtümer, dachten so weit, wie es damals eben ging, und entwickelten recht eindrucksvolle Systeme der Logik und Dialektik. Menschen wie Peter Abälard konnten nichts dafür, dass sie mit Fragmenten des Aristoteles arbeiten mussten, dessen Werke verloren gegangen waren, als unter dem christlichen Kaiser Justinian die Philosophieschulen geschlossen wurden; sie überdauerten in Bagdad in arabischer Übersetzung die Zeit und fanden über das jüdische und muslimische Andalusien den Weg zurück ins finstere christliche Europa. Als sie das Material in die Finger bekamen und einsehen mussten, dass schon vor der Ankunft Jesu eine geistvolle Debatte über Ethik und Moral stattgefunden hatte, versuchten sie mit aller Kraft die Quadratur des Kreises. Wir lernen wenig aus dem, was sie dachten, aber viel daraus, wie sie dachten.
Ein mittelalterlicher Philosoph und Theologe, der uns über
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