Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
hat. Die Gebetshaltungen gleichen häufig der Pose eines Sklaven, der sich vor seinem misslaunigen König niederwirft. Der Mensch drückt damit seine ständige Unterwerfung, Dankbarkeit und Furcht aus. Das Leben ist erbärmlich, eine Zeitspanne, in der man sich auf das Jenseits oder auf die Ankunft – oder Wiederkehr – des Messias vorbereitet.
Andererseits lehrt die Religion die Menschen, wie zur Entschädigung, eine hochgradig egozentrische und eingebildete Haltung einzunehmen. Gott kümmere sich um jeden Einzelnen, so wird ihnen vermittelt, und das Universum sei speziell für sie geschaffen worden. Das erklärt den überheblichen Gesichtsausdruck derer, die ihre Religion wie einen Schild vor sich hertragen: Verzeihen Sie meine Bescheidenheit und Demut, aber ich bin zufällig gerade im Auftrag des Herrn unterwegs.
Da der Mensch von Natur aus egozentrisch ist, hat jede Form von Aberglauben gewissermaßen einen Heimvorteil. In den USA stecken wir unsere ganze Kraft in den Bau immer höherer Gebäude und schnellerer Verkehrsflugzeuge – die beiden Errungenschaften, die von den Attentätern vom 11. September 2001 gegen uns eingesetzt wurden –, doch dann schaffen wir es nicht, die Stockwerks- oder Sitzreihennummer 13 zu vergeben. Gewiss, Pythagoras widerlegte die Astrologie mit der schlichten Feststellung, dass eineiige Zwillinge nicht die gleiche Zukunft vor sich haben, und ja, sicher, der Tierkreis wurde ersonnen, lange bevor alle Planeten unseres Sonnensystems bekannt waren, und natürlich wissen wir auch, dass, wenn uns jemand verlässlich unsere Zukunft vorhersagen könnte, sie dadurch bereits wieder verändert würde. Unzählige Menschen lesen jeden Tag ihr Horoskop in der Zeitung, um dann völlig unvorhergesehen einen Herzinfarkt oder einen Verkehrsunfall zu erleiden. (Als dem Astrologen einer Londoner Boulevardzeitung von seinem Vorgesetzten gekündigt wurde, begann der Brief mit den Worten: »Wie Sie zweifellos vorhergesehen haben...«) In seiner Minima Moralia erklärt Theodor Adorno, die Esoterik liefere »dem Schwachsinn die Weltanschauung«. [FUSSNOTE18]
Und trotzdem: Als ich eines Morgens zufällig im Horoskop für den Widder las: »Ein Vertreter des anderen Geschlechts ist an Ihnen interessiert und wird es Ihnen auch zeigen«, fiel es mir schwer, das Aufwallen törichter Erregung zu unterdrücken, das in meiner Erinnerung die sich anschließend einstellende Enttäuschung überdauert hat. Wann immer ich aus meiner Wohnung gehe, ist weit und breit kein einziger Bus zu sehen, wohingegen jedes Mal, wenn ich heimkehre, gerade einer vorbeifährt. An Tagen, an denen ich schlecht gelaunt bin, grummle ich »Na typisch«, obwohl aus einem Winkel meines zwei bis drei Pfund leichten Gehirns der Hinweis kommt, dass bei der Erstellung des Fahrplans für die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt Washington, D.C., meine Gewohnheiten keine Berücksichtigung finden. (Ich erwähne das nur für den Fall, dass es noch einmal eine Rolle spielt: Falls ich an dem Tag, an dem dieses Buch erscheint, von einem Bus überfahren werde, wird es bestimmt Leute geben, die behaupten, das sei kein Unfall gewesen.)
Ist es da nicht ganz natürlich, W. H. Auden zum Trotz daran zu glauben, dass das Firmament auf rätselhafte Weise zu meinem Vorteil geordnet ist? Oder, in einer etwas kleineren Größenordnung gedacht, dass sich ein höheres Wesen für die Wechselfälle meines persönlichen Schicksals interessiert? Einer meiner vielen Konstruktionsfehler besteht in meinem Hang, an so etwas zu glauben oder es mir zumindest zu wünschen, und obwohl mir wie vielen anderen Menschen genug Bildung zuteil wurde, um ihn zu erkennen, muss ich gestehen, dass dieser Fehler wohl angeboren ist. Im Rahmen einer humanitären Aktion für ein von einem Zyklon verwüstetes tamilisches Küstengebiet fuhr ich einmal mit mehreren Tamilen im Auto durch Sri Lanka. Meine Begleiter waren allesamt Mitglieder der Sai-Baba-Sekte, die in Südindien und Sri Lanka stark vertreten ist. Sai Baba behauptet, er lasse die Toten auferstehen, und führt gern vor laufender Kamera vor, dass er heilige Asche aus der bloßen Handfläche zaubern kann. (Warum Asche?, frage ich mich.) Vor der Abfahrt zerschlugen meine Freunde ein paar Kokosnüsse auf einem Stein, um eine sichere Reise zu gewährleisten. Diese Maßnahme erwies sich indes als wirkungslos, denn auf halbem Weg über die Insel raste unser Fahrer zu schnell durch ein Dorf und fuhr einen Mann über den Haufen, der vor
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