Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
lasse, sei auch ohne weit hergeholte Annahmen erklärbar. Er ließ sich unerschrocken von seiner eigenen Logik leiten und nahm die Naturwissenschaften voraus, indem er einräumte, es sei möglich, die Natur »geschaffener« Dinge zu verstehen, ohne sich auf ihren »Schöpfer« zu beziehen. Ockham zufolge lässt sich streng genommen nicht einmal die Existenz Gottes – definiert als souveränes, perfektes, einmaliges und unendliches Wesen – nachweisen. Wenn man jedoch eine erste Ursache für die Existenz der Welt festmachen wolle, könne man sie »Gott« nennen, auch wenn man die genaue Natur dieser »prima causa« nicht kennt. Auch die erste Ursache bringt aber so ihre Schwierigkeiten mit sich, weil eine Ursache womöglich eine andere Ursache voraussetzt. Es sei schwierig oder unmöglich, schrieb er, die Philosophen dahin gehend zu widerlegen, dass es keine unendliche Folge von gleichartigen Ursachen gebe, deren eine ohne die andere existieren könne. Das Postulat eines Gestalters oder Schöpfers wirft somit die nicht zu beantwortende Frage auf, wer den Schöpfer gestaltete oder den Gestalter schuf. Religion, Theologie und Theodizee (das sage nun ich, nicht Ockham) sind immer wieder daran gescheitert, diesen Einwand zu entkräften. Ockham musste sich auf die verzweifelte Position zurückziehen, dass die Existenz Gottes nur durch den Glauben »demonstriert« werden kann.
Die Worte des »Kirchenvaters« Tertullian »Credibile est, quia ineptum est« können wir, je nach Geschmack, entwaffnend oder ärgerlich finden: »Ich glaube, weil es widersinnig ist.« Solch eine Sichtweise lässt sich unmöglich ernsthaft anfechten. Wenn man des Glaubens bedarf, um etwas zu glauben oder an etwas zu glauben, so sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Wahres oder Verwertbares daran ist, erheblich. Die harte Arbeit des Forschens, Beweisens und Nachweisens ist unendlich viel einträglicher und hat uns Erkenntnisse beschert, die »wunderbarer« und »transzendenter« sind als jede Theologie.
Der »Sprung in den Glauben« – um den von Søren Kierkegaard geprägten Begriff zu verwenden – ist ein Schwindel. Kierkegaard wies darauf hin, dass ein »Sprung« nicht für alle Zeit ausreicht. Er muss ständig wiederholt werden, wider die sich häufenden Gegenbeweise. Diese Anstrengung überfordert den menschlichen Verstand und führt zu Wahnvorstellungen und Manien. Die Religion weiß sehr gut, dass der »Sprung« immer weniger einbringt, weshalb sie sich nicht auf den »Glauben« verlässt, sondern ihn korrumpiert und die Vernunft beleidigt indem sie »Beweise« konstruiert. Argumentiert wird mit dem Wirken des Schöpfers in der Natur, mit Offenbarungen, Strafen und Wundern. Nun, nachdem das Monopol der Religion beendet wurde, liegt es im Vermögen eines jeden Einzelnen, diese Beweise als die törichten Lügen zu entlarven, die sie sind.
Kapitel sechs:
Gott als Gestalter
...Mein ganzes moralisches und geistiges Sein ist von der unüberwindlichen Überzeugung durchdrungen, dass alles, was unter die Herrschaft unserer Sinne fällt, der Natur angehören muss und sich, so außergewöhnlich es auch sei, in seinem Wesen nicht von den übrigen Einwirkungen der greifbaren und sichtbaren Welt unterscheidet, von der wir selbst ein bewusster Teil sind. Die Welt der Lebenden birgt, so wie sie ist, genug Raum für Wunder und Rätsel – Wunder und Rätsel, die sich auf unsere Gefühle und unseren Verstand in so unerklärlicher Weise auszuwirken vermögen, dass es fast berechtigt wäre, unser ganzes Leben als einen Zustand der Verzauberung aufzufassen. Nein, ich bin mir viel zu sicher all des Wunderbaren bewusst, um vom nur Übernatürlichen fasziniert werden zu können, das (nehmen Sie es, wie Sie wollen) nichts anderes ist als ein künstlich hergestellter Artikel, die Erzeugung von Gesinnungen, denen unsere fein gesponnene innerliche Verbundenheit mit den unzählbaren Scharen der Toten und der Lebenden nichts bedeutet; eine Entweihung unserer zärtlichsten Erinnerungen, eine Schändung unserer Würde.
Joseph Conrad, »Vorbemerkungen des Autors«
zu Die Schattenlinie [FUSSNOTE17]
Ein Paradox prägt die Religion in ihrem Innern. Die drei großen monotheistischen Religionen verlangen Unterwürfigkeit von den Menschen: Sie sollen sich als elende und schuldige Sünder einem verärgerten und eifersüchtigen Gott zu Füßen werfen, der sie widersprüchlichen Berichten zufolge aus Staub und Lehm oder aus einen Blutklumpen, einem Embryo, geschaffen
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