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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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die Zeiten hinweg etwas zu sagen hat, ist William Ockham. Ockham, der manchmal auch als William of Ockham (oder Occam) bezeichnet wird, ist vermutlich nach seinem Geburtsort in der englischen Grafschaft Surrey benannt, der gern mit seinem Namensgeber prahlt. Sein Geburtsdatum ist nicht bekannt, doch er starb 1349 in München vermutlich unter großen Schmerzen und Ängsten am schrecklichen Schwarzen Tod. William war Franziskaner, mithin ein Ordensbruder des bereits erwähnten Franz von Assisi, der angeblich den Vögeln predigte. Damit vertrat er eine radikale Haltung zur Armut, die ihn 1324 in Konflikt mit dem Papst in Avignon brachte. Der Streit zwischen dem Papat und dem Kaiserreich um die Aufteilung der weltlichen und kirchlichen Macht ist hier nebensächlich (zumal beide Seiten am Ende »verloren«), doch die weltliche Haltung des Papstes zwang William, den Kaiser um Schutz zu ersuchen. Konfrontiert mit dem Vorwurf der Ketzerei und mit der drohenden Exkommunikation, erwiderte er mutig, der Papst sei selbst ein Ketzer. Da er jedoch stets innerhalb des geschlossenen christlichen Bezugsrahmen argumentierte, galt er sogar unter extrem orthodoxen Kirchenführern immer als origineller und couragierter Denker.
    Ockham interessierte sich zum Beispiel für die Sterne. Er wusste viel weniger über Sternennebel als wir oder Laplace, im Grunde wusste er gar nichts. Doch er nahm die Sterne zum Anlass einer interessanten Spekulation. Angenommen , Gott kann uns die Präsenz einer nicht existenten Entität spüren lassen, und weiter angenommen, er muss sich diese Mühe gar nicht erst machen, wenn die tatsächliche Präsenz dieser Entität die gleiche Wirkung in uns erzielt, so könnte uns Gott, wenn er es wünschte, trotzdem dazu bringen, an die Existenz von Sternen zu glauben, ohne dass sie tatsächlich da sind. Das bedeutet aber nicht, dass wir jeden Unsinn glauben müssen: Gott kann nicht bewirken, dass wir etwas als existent sehen, wenn es nicht da ist, denn das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Ehe der geneigte Leser angesichts der gewaltigen Tautologie, die sich hier, wie so oft in der Theologie und der Theodizee, ankündigt, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln beginnt, will ich zitieren, was der bedeutende Jesuitenpater Copleston dazu sagt:
    Wenn Gott die Sterne vernichtet hätte, könnte er uns immer noch dazu bringen, zu sehen, was einmal war, sofern dieser Akt als subjektiv erachtet wird, so, wie er uns eine Vision dessen vermitteln kann, was in der Zukunft sein wird. Beides wäre ein unmittelbares Begreifen, im ersten Falle dessen, was war, im zweiten Falle dessen, was sein wird. [FUSSNOTE16]

    Diese Worte sind genau genommen sehr beeindruckend, nicht nur für die damalige Zeit. Wir haben seit Ockham mehrere Hundert Jahre gebraucht, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass wir beim Blick in die Sterne tatsächlich das Licht von Körpern sehen, die sehr weit entfernt sind und zum Teil schon nicht mehr existieren. Es ist hier unerheblich, dass die Kirche das Recht beschnitt, durch ein Fernrohr zu blicken und über das Ergebnis zu spekulieren. Dafür kann Ockham nichts, und es gibt kein Gesetz, das die Kirche zu solcher Dummheit verpflichtet. Ausgehend von der unvorstellbaren interstellaren Vergangenheit, aus der uns Licht über Entfernungen erreicht, die unsere Vorstellungskraft übersteigen, sind wir zu der Einsicht gelangt, dass wir auch etwas über die Zukunft des Universums wissen, etwa über die Geschwindigkeit seiner Ausdehnung und über sein Ende. Allerdings, und das ist entscheidend, steht es uns frei, ob wir auf die Vorstellung eines Gottes verzichten oder sie beibehalten. In beiden Fällen funktioniert die Theorie auch ohne diese Voraussetzung. Wir können, wenn wir mögen, an einen göttlichen Lenker glauben, doch das macht überhaupt keinen Unterschied. Deshalb ist der Glaube unter Astronomen und Physikern zu einer privaten und recht seltenen Angelegenheit geworden.
    Es war Ockham, der uns geistig auf diesen für ihn unerwünschten Ausgang vorbereitete. Er formulierte das »Sparsamkeitsprinzip«, auch unter dem Begriff »Ockhams Rasiermesser« bekannt, nach dem auf unnötige Annahmen verzichtet werden und die erste hinreichende Erklärung oder Ursache akzeptiert werden soll. »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem«, »Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden«. Dieses Prinzip übertrifft sich selbst. Was sich nur durch die Heranziehung von Annahmen erklären

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