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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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erleben –, und am Ausgang steht ja auch keiner mit einem Klingelbeutel für die Glöckchen-Erlöser-Kirche. Die Ausbeutung Marjoes hatte die intellektuelle Ausrichtung der Glöckchen-Szene, angereichert mit der Moral eines Captain Hook.
    Etwa zehn Jahre später nahm Mr. Gortner bestmöglich Rache dafür, dass man ihn um seine Kindheit betrogen hatte. Um seine Schwindelei bei der Öffentlichkeit wiedergutzumachen, bot er einem Fernsehteam an, ihn bei seinem scheinbaren Comeback zur Predigt des Evangeliums zu begleiten. Vorher erklärte er genau, wie all die Tricks funktionierten. Wie man mütterliche Frauen – er war ein adretter Junge – dazu bringt, sich von ihrem Ersparten zu trennen. Wie man mit Musik eine ekstatische Wirkung erzielt. Dass man genau in diesem Moment von einer persönlichen Begegnung mit Jesus berichtet. Wie man mit unsichtbarer Tinte ein Kreuz auf die Stirn zeichnet, das plötzlich sichtbar wird, wenn man zu schwitzen beginnt. Wie man zum entscheidenden Schlag ausholt. Er hielt sein Versprechen, kündigte dem Regisseur genau an, was er tun konnte und würde, ging hinaus auf die Bühne und setzte es absolut überzeugend um. Die Menschen weinten und schrien, brachen zusammen, kreischten den Namen ihres Erlösers. Zynische und gefühllose Männer und Frauen warteten den psychologischen Moment ab, in dem sie den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen konnten, das sie, noch bevor die Gottesdienst-Farce vorüber war, beglückt gezählt hatten. Hin und wieder sah man das Gesicht eines kleinen Kindes, das, von den Eltern mitgeschleppt, unglücklich und verstört zusah, wie Mutter und Vater sich wanden, schluchzten und ihr schwer verdientes Geld hergaben. Natürlich, es war schon vorher bekannt, dass der amerikanische Evangelismus ein Schwindel ist, ein herzloser Bluff, ersonnen von den Nebenfiguren aus Chaucers »Erzählung des Ablasspredigers« nach dem Motto: »Ihr Trottel behaltet euren Glauben. Wir behalten euer Geld.« So muss es gewesen sein, als die katholische Kirche öffentlich Ablassbriefe verkaufte und als ein Nagel oder Splitter vom Kreuze Christi auf den Flohmärkten der Christenheit einen guten Preis erzielte. Aber zuzusehen, wie einer, der sowohl Opfer als auch Profiteur war, den Frevel aufdeckt, schockiert sogar den eingefleischten Nichtgläubigen. Wie soll man so etwas verzeihen? Der Film Marjoe erhielt im Jahr 1972 den Academy Award und blieb völlig folgenlos. Die Mühlen der Fernsehprediger mahlen weiter, die Armen finanzieren weiter die Reichen, gerade so, wie auch die Glitzertempel und Paläste von Las Vegas nicht vom Reichtum der Gewinner, sondern vom Geld der Verlierer errichtet wurden.
    In seinem bestrickenden Roman Ein Kind zur Zeit präsentiert Ian McEwan einen desolaten Protagonisten und Erzähler, der durch eine Tragödie in einen Zustand nahezu vollständiger Untätigkeit geraten ist und den lieben langen Tag in den Fernseher starrt. Er beobachtet, wie seine Mitmenschen es geradezu herausfordern, sich manipulieren und erniedrigen zu lassen. Der Zuschauer, der dem Spektakel bereitwillig frönt, konsumiert, wie er sagt, die »Pornografie des Demokraten«. Es ist nicht snobistisch zu bemerken, wie die Menschen ihre Leichtgläubigkeit und ihren Herdeninstinkt, ihren Wunsch oder vielleicht ihr Bedürfnis, vertrauensselig an der Nase herumgeführt zu werden, zur Schau stellen. Das ist ein uraltes Problem. Gutgläubigkeit mag eine Form der Unschuld sein und für sich genommen sogar harmlos, doch sie fordert Schurken und Füchse geradezu zur Ausbeutung ihrer Brüder und Schwestern auf und stellt daher eine der großen Schwächen der Menschheit dar. Wer die Entstehung und das Fortbestehen von Religionen oder die Rezeption von Wundern und Offenbarungen beschreiben will, kommt um dieses sich so hartnäckig haltende Phänomen nicht herum.

    Wenn die Anhänger des Propheten Mohammed im Anschluss an die jungfräuliche Empfängnis des Korans gehofft hatten, dass künftige »Offenbarungen« damit hinfällig wären, hatten sie die Rechnung ohne den Stifter einer Religion gemacht, die heute weltweit mit die größten Zuwächse verzeichnet. Und sie sahen nicht voraus – wie konnten sie auch, einfache Säugetiere, die sie waren? – dass sich der Prophet dieses lächerlichen Kultes den ihren zum Vorbild nehmen würde. Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage – im Folgenden als Mormonen bezeichnet – wurde von einem begnadeten Opportunisten gegründet, der seinen Text zwar mit

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