Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
deutschlandfreundlichen Kräfte in Norwegen die Regierung dazu zwangen, Trotzki das Asyl zu verweigern und ihn erneut auszuweisen, worauf er bis zu seinem Tode durch die Welt irrte. Der alte Mann traf mit dem norwegischen Außenminister Trygve Lie und anderen zusammen:
An dieser Stelle erhob Trotzki seine Stimme so stark, dass sie durch die Räume und Korridore des Ministeriums schaute: »Das ist Ihr erster Kapitulationsakt vor dem Nazismus in Ihrem eigenen Land. Sie werden dafür zu bezahlen haben. Sie halten sich für so mächtig, um ungestört und nach Ihrem Gutdünken mit einem politischen Verbannten zu verfahren. Aber der Tag ist nahe – denken Sie daran! –, der Tag ist nahe, an dem die Nazis Sie zusammen mit Ihrem Pantoffel-Ministerpräsidenten aus Ihrem Lande vertreiben werden.« Trygve Lie zuckte angesichts dieser eigenartigen Weissagung mit den Schultern. Aber nach weniger als vier Jahren musste die gleiche Regierung tatsächlich vor den nazistischen Eindringlingen aus Norwegen fliehen. Und als die Minister und ihr betagter König Haakon als Flüchtlinge an der Küste standen und voller Unruhe auf ein Schiff warteten, das sie nach England bringen sollte, dachten sie mit einem Schauder daran, wie der prophetische Fluch Trotzkis in Erfüllung gegangen war. [FUSSNOTE40]
Trotzki verfügte dank seiner soliden materialistischen Kritik durchaus nicht immer, doch hin und wieder recht eindrucksvoll über großen Weitblick. Zudem begriff er, wie er in seinem emotionalen Essay Literatur und Revolution schrieb, das unstillbare Verlangen der Armen und Unterdrückten danach, sich über die rein materielle Welt zu erheben und eine Transzendenz zu erlangen. Diese Idee habe ich einen Gutteil meines Lebens geteilt und bis heute nicht völlig verworfen. Doch es kam eine Zeit, da ich mich den Attacken der Realität nicht mehr entziehen konnte und wollte. Der Marxismus hatte, wie bereits erwähnt, seine intellektuellen, philosophischen und ethischen Vorzüge, die aber nun der Vergangenheit angehören. Vielleicht lässt sich noch etwas aus der heroischen Zeit herüberretten, doch Tatsache bleibt: Es gab keine Richtschnur für die Zukunft mehr. Zudem hatte ausgerechnet das Konzept einer Gesamtlösung auf die abstoßendste Weise Todesopfer gefordert und auch noch die Ausreden dafür geliefert. Diejenigen von uns, die eine rationale Alternative zur Religion gesucht hatten, waren an einer vergleichsweise dogmatischen Endstation angelangt. Was konnte man auch erwarten von einem Denkgebäude, das von so nahen Verwandten der Schimpansen errichtet worden war? Unfehlbarkeit? Falls der Leser es bis hierher geschafft hat und merkt, dass sein eigener Glaube ins Wanken gerät – was ich hoffe –, so räume ich gern ein, dass ich weiß, was er durchmacht. An manchen Tagen vermisse ich meine alten Überzeugungen wie eine amputierte Gliedmaße. Doch meistens fühle ich mich besser – und nicht weniger radikal –, und so wird es, das garantiere ich, auch dem Leser gehen, wenn er die Doktrinen erst hinter sich gelassen hat und seinem entfesselten Verstand erlaubt, selbstständig zu denken.
Kapitel elf:
Niedere Herkunft: Die korrupten Anfänge der Religionen
Wenn es sich um Fragen der Religion handelt, machen sich die Menschen aller möglichen Unaufrichtigkeiten und intellektuellen Unarten schuldig.
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion [FUSSNOTE41]
Die verschiedenen Religionen, welche in der römischen Welt herrschten, wurden sämtlich von dem Volke als gleich wahr, von den Philosophen als gleich falsch, von der Staatsgewalt als gleich nützlich angesehen.
Edward Gibbon, Verfall und Untergang
des Römischen Reiches [FUSSNOTE42]
Ein Sprichwort in Chicago besagt: Wer sich seinen Respekt vor den Ratsherren der Stadt und seinen Appetit auf Würstchen erhalten wolle, möge darauf achten, nicht bei der Erziehung Ersterer oder bei der Herstellung Letzterer dabei zu sein. Die Anatomie des Menschen, sagte Engels, sei der Schlüssel zur Anatomie des Affen. Auch wenn wir uns die Entstehung einer Religion näher ansehen, können wir Rückschlüsse auf die Ursprünge der Religionen anstellen, die sich entwickelten, als die wenigsten Menschen lesen und schreiben konnten. Aus dem reichhaltigen Angebot öffentlich fabrizierter Würstchenreligionen wähle ich den melanesischen Cargo-Kult, den Superstar der Pfingstbewegung Marjoe sowie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, gemeinhin bekannt als Mormonen. Zu allen Zeiten
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