Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
gutgeheißen. Mit dem Vormarsch der Entkolonisierung und der Menschenrechtsfrage wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg der Ruf nach Rassenemanzipation wieder laut. Und wieder kam – auf amerikanischem Boden und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – der nachdrückliche Hinweis darauf, dass sich Noahs grundverschiedene Nachkommen nach Gottes Willen nicht mischen sollten. Diese barbarische Dummheit hatte handfeste Konsequenzen. Der mittlerweile verstorbene Senator Eugene McCarthy erzählte mir einmal, er habe Senator Pat Robertson, Vater des heutigen Fernsehpropheten, einst gedrängt, einer gemäßigten Bürgerrechtsgesetzgebung zuzustimmen. »Ich würde den Farbigen wirklich gern helfen«, lautete die Antwort, »doch die Bibel sagt Nein.« »Der Süden« definierte sich ausschließlich als weiß und christlich. Und hier setzte Dr. King den Hebel an, denn er konnte die weißen Reaktionäre an die Wand predigen. Diese schwere Last hätte er aber gar nicht erst auf sich nehmen müssen, wäre die Religiosität nicht so tief verwurzelt gewesen. Taylor Branch zeigt auf, dass sich in Kings engstem Umkreis und Gefolge viele säkulare Kommunisten und Sozialisten befanden, die schon jahrzehntelang den Boden für eine Bürgerrechtsbewegung bereitet und mutige Freiwillige wie Mrs. Rosa Parks in der Strategie des zivilen Ungehorsams geschult hatten. Diese »atheistischen« Verbindungen wurden King vor allem von den Kanzeln wiederholt vorgeworfen. Seine Kampagne hatte mithin unter anderem auch das Wiedererstarken des rechtsgerichteten weißen Christentums zur Folge, das in den Südstaaten bis heute so stark ist.
Als Dr. Kings Namensvetter 1517 seine Thesen an die Tür der Schlosskirche von Wittenberg schlug und als er auf dem Reichstag in Worms 1521 beherzt verkündete: »Hier stehe ich und kann nicht anders«, setzte er einen Maßstab für intellektuellen und moralischen Mut. Doch Martin Luther, den ein Blitzschlag dermaßen in Angst und Schrecken versetzte, dass er fortan ein Leben für den Glauben führen wollte, wurde später selbst zu einem bigotten Schergen, der Gift und Galle gegen Juden spuckte, von Dämonen faselte und die deutschen Fürsten dazu aufforderte, hart gegen die aufrührerischen Armen vorzugehen. Als Dr. King auf den Stufen zum Lincoln’s Memorial für seine Sache eintrat und den Lauf der Geschichte veränderte, nahm auch er tatsächlich eine ihm aufgezwungene Haltung ein, erwies sich dabei aber als scharfsinniger Humanist. Weil niemand je in seinem Namen Menschen unterdrücken oder Grausamkeiten begehen konnte, hat sein Name Bestand, und sein Vermächtnis hat nur wenig mit der von ihm vertretenen Theologie zu tun. Für das Eintreten gegen den Rassismus bedurfte es keiner übernatürlichen Macht.
Wer demnach die Rolle der Religion im öffentlichen Leben mit dem Verweis auf Kings Vermächtnis verteidigt, muss auch alle Konsequenzen akzeptieren, die sich daraus ergeben. Schon bei einer oberflächlichen Überprüfung aller großen historischen Persönlichkeiten Amerikas kommen die Freidenker, Agnostiker und Atheisten am besten davon. Die Chance, dass sich jemand aus seiner säkularen oder freidenkerischen Haltung heraus gegen Ungerechtigkeiten aussprach, war sehr hoch. Die Chance, dass jemand aus seinem religiösen Glauben heraus gegen Sklaverei und Rassismus eintrat, war statistisch betrachtet eher gering. Die Chance dagegen, dass jemand aus seinem religiösen Glauben heraus Sklaverei und Rassismus unterstützte, war statistisch gesehen sehr hoch, woraus sich erklärt, warum es so lange dauerte, bis die Gerechtigkeit den Sieg davontrug.
In den Ländern der Welt, in denen die Sklaverei heute noch praktiziert wird, geschieht dies, soweit mir bekannt, mit Hinweis auf den Koran. Das führt uns zurück zu Thomas Jefferson, John Adams und die frühen Tage der amerikanischen Republik. Die beiden Sklavenhalter hatten den Botschafter von Tripoli in London gefragt, was ihm das Recht gebe, amerikanische Seeleute und Passagiere von Schiffen, die durch die Straße von Gibraltar fuhren, gefangen zu nehmen und zu verkaufen – heutigen Schätzungen zufolge wurden zwischen 1530 und 1780 mehr als eineinviertel Millionen Europäer auf diese Art verschleppt. Jefferson berichtete dem Kongress:
Der Botschafter antwortete uns, Grundlage seien die Gesetze des Propheten; in ihrem Koran stehe geschrieben, dass alle Nationen, die sich nicht seiner Autorität unterstellten, Sünder seien und dass es ihr Recht und ihre
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