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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Hitchens
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beginnt, die Mose zum Pharao sprach: »Lass mein Volk ziehen.« In jeder Rede befeuerte er die Unterdrückten, schalt und ermahnte ihre Unterdrücker. Nach und nach schlugen sich die beschämten Religionsführer des Landes auf seine Seite. Rabbi Abraham Heschel fragte: »Wo bekommen wir im heutigen Amerika eine Stimme zu hören, die wie die Stimme der Propheten Israels ist? Martin Luther King ist ein Zeichen dafür, dass Gott die Vereinigten Staaten von Amerika nicht verlassen hat.«
    Wenn wir der alttestamentlichen Geschichte weiter folgen, so ist die Predigt, die King am letzten Abend seines Lebens hielt, die schaurigste. Es war ihm gelungen, die öffentliche Meinung umzudrehen und Bewegung in die sture Regierung Kennedy zu bringen, und nun war er in Memphis, Tennessee, um einen langen und erbitterten Streik der geknechteten städtischen Müllarbeiter zu unterstützen, die auf ihre Plakate die schlichten Worte »I Am a Man« geschrieben hatten: »Ich bin ein Mensch.« Auf der Kanzel der Mason Temple Church resümierte er noch einmal den Kampf der vorangegangenen Jahre und sagte dann unvermittelt: »Aber das berührt mich jetzt nicht so.« Er hielt kurz inne und fuhr fort: »Denn ich bin oben auf dem Berg gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder von uns würde auch ich gern ein langes Leben führen, Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum mache ich mir jetzt keine Gedanken. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Und er hat mir erlaubt, auf den Berg zu gehen. Und ich habe von dort hinübergeschaut. Und ich habe das verheißene Land gesehen. Vielleicht werde ich nicht mit euch hinziehen. Aber heute Abend sollt ihr wissen, dass wir als ein Volk ins verheißene Land kommen werden!« Keiner, der an jenem Abend dort war, wird diese Worte je vergessen, und ich wage zu behaupten, das gilt auch für alle, die den in diesem transzendenten Moment glücklicherweise aufgenommenen Film gesehen haben. Eine ebenso intensive Erfahrung ist es, Nina Simone zuzuhören, die in der gleichen schrecklichen Woche »The King of Love is Dead« sang. Dieses Drama enthält Momente aus der Geschichte des Mose auf dem Berg Nebo und solche aus dem Garten Gethsemane. Es schmälert die Wirkung nur unwesentlich, wenn man weiß, dass es eine von Dr. Kings Lieblingspredigten war, die er schon mehrere Male gehalten hatte und jederzeit aus dem Stegreif mit einfließen lassen konnte.
    Doch die Beispiele, die King aus den Büchern Mose anführte, waren zu unser aller Glück Metaphern und Allegorien. An erster Stelle predigte er die Gewaltlosigkeit. In seiner Version der biblischen Geschichte kamen keine brutalen Strafen und keine blutigen Völkermorde vor, keine grausamen Gebote, Kinder zu steinigen und Witwen zu verbrennen. Er versprach seinem geplagten und verachteten Volk kein Gebiet, das von anderen bewohnt war, noch stiftete er es dazu an, andere Sippen zu plündern und zu ermorden. Im Angesicht der andauernden Provokation und Brutalität beschwor King seine Anhänger, das zu werden, was sie dann eine Zeit lang auch wirklich waren: moralische Vorbilder für Amerika und die ganze Welt. Er vergab seinem Mörder im Grunde im Voraus; hätte er dies auch noch ausdrücklich gesagt, so wären seine letzten öffentlichen Worte über jede Kritik erhaben gewesen. Der Unterschied zwischen ihm und den »Propheten Israels« hätte aber auch so krasser nicht sein können. Wäre die amerikanische Bevölkerung mit Xenophons Geschichte Anabasis groß geworden, die von der langen und ermüdenden Reise der Griechen bis zu ihrer triumphierenden Ankunft am Schwarzen Meer erzählt, so hätte diese Allegorie die gleiche Wirkung erzielt. Die Heilige Schrift war sozusagen der einzige Bezugspunkt, den alle gemein hatten.
    Der christliche Reformismus entwickelte sich ursprünglich aus der Fähigkeit seiner Vertreter, das Alte Testament dem Neuen gegenüberzustellen. Die zusammengeschusterten alten jüdischen Bücher präsentierten einen übel gelaunten, unerbittlichen, blutigen und provinziellen Gott, der womöglich am meisten Angst verbreitete, wenn er guter Stimmung war – die klassische Eigenschaft des Diktators. Die zusammengeschusterten Bücher der letzten zweitausend Jahre dagegen lieferten Halt für die Hoffnungsfrohen und sprachen von Schwäche, Vergebung, Lämmern, Schafen und so weiter. Diese Unterscheidung ist aber eher oberflächlicher Art, denn von der Hölle und ewiger Strafe ist nur in den überlieferten Worten Jesu die Rede. Der Gott Moses erwartete zwar von

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