Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
und vollstreckbare Form erhielt. Der Islam, die Ideologie eines höchst erfolgreichen Eroberungszuges, wurde von mächtigen Herrscherdynastien angenommen, seinerseits kodifiziert und niedergeschrieben und für das Land als herrschendes Gesetz verkündet. Wären eine oder zwei Schlachten anders ausgegangen – wie bei Lincoln und Antietam –, würden wir uns in den Ländern des Westens nicht mit Dorfstreitigkeiten befassen, die in Judäa und Arabien stattfanden, ehe es überhaupt irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen gab. Wir hätten auch Anhänger eines völlig anderen Glaubens werden können – des Hinduglaubens vielleicht oder des aztekischen oder konfuzianischen; auch in diesem Falle hieße es, der Glaube, egal ob er nun wahr sei oder nicht, vermittle den Kindern den Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Anders formuliert: Mit dem Glauben an Gott drückt der Mensch seine Bereitschaft aus, an alles mögliche zu glauben. Wohingegen man mit der Ablehnung des Glaubens keineswegs automatisch an nichts glaubt.
Ich habe einmal den mittlerweile verstorbenen Professor A. J. Ayer, namhafter Autor des Werkes Sprache, Wahrheit und Logik und gefeierter Humanist, in einer Diskussion mit einem gewissen Bischof Butler gesehen. Moderator war der Philosoph Bryan Magee. Das Gespräch verlief durchaus höflich, bis Ayer sagte, er sehe keinen Beweis für die Existenz irgendeines Gottes, und der Bischof einfiel: »Dann verstehe ich nicht, warum Sie nicht ein Leben ungezügelter Unmoral führen.«
An dieser Stelle ließ »Freddie«, wie ihn seine Freunde nannten, seine für gewöhnlich höflichen Umgangsformen fahren und rief aus: »Ich muss schon sagen, das ist ja eine ungeheuerliche Unterstellung.« Nun hatte Freddie die am Sinai umrissenen Gebote zur Sexualmoral allesamt gebrochen. Dafür war er sozusagen berühmt. Doch er war ein hervorragender Lehrer, ein liebender Vater und ein Mensch, der einen großen Teil seiner Freizeit darauf verwendete, sich für die Menschenrechte und das Recht auf freie Meinungsäußerung einzusetzen. Dieses Leben als unmoralisch zu bezeichnen wäre eine krasse Verzerrung der Wahrheit.
Von den vielen Schriftstellern, die das gleiche Phänomen auf ihre jeweils eigene Art illustrieren, möchte ich Evelyn Waugh herausgreifen, der des gleichen Glaubens war wie Bischof Butler und sich in seinen Romanen sehr bemühte, das Wirken der göttlichen Herrlichkeit aufzuzeigen. In Wiedersehen mit Brideshead macht er eine sehr treffende Beobachtung, als seine beiden Protagonisten Sebastian Flyte, Erbe einer alten katholischen Adelsfamilie, und Charles Ryder Besuch von Pater Phipps erhalten. Dieser geht davon aus, dass sich alle jungen Männer leidenschaftlich für Kricket interessieren. Als Charles ihn vom Gegenteil überzeugt, sieht der Geistliche ihn »mit einer Miene an, wie ich sie später an frommen Menschen beobachtet habe, einer Miene unschuldiger Verwunderung darüber, dass die, die sich den Gefahren der Welt überantworten, so wenig Gebrauch von ihren vielfältigen Tröstungen machen«. [FUSSNOTE52]
Kehren wir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zu Bischof Butlers Frage zurück. Wollte er Ayer vielleicht auf seine naive Art mitteilen, dass er selbst sich, befreit von den Beschränkungen der christlichen Lehre, für ein »Leben ungezügelter Unmoral« entscheiden würde? Natürlich – so hofft man – nicht. Doch viele empirische Erkenntnisse sprechen dafür. Wenn Priester sich dem Bösen verschreiben, dann gleich richtig. Dann begehen sie Verbrechen, die den Durchschnittssünder blass aussehen lassen. Das könnte eher der sexuellen Verdrängung zuzuschreiben sein als der theologischen Doktrin, doch diese Doktrin umfasst ja nun auch die sexuelle Verdrängung... Damit ist der Zusammenhang unvermeidlich, und nicht zufällig geht seit Anbeginn der Religion unter den kirchlichen Laien diesbezüglich eine ganze Litanei folkloristischer Witze um.
Waugh verstieß in seinem Leben sehr viel ausgiebiger gegen das Gebot der Keuschheit und der Nüchternheit als Ayer – was ihm allerdings nicht mehr Glück bescherte –, und er wurde häufig gefragt, wie er sein Privatleben mit seinem nach außen dokumentierten Glauben vereinbarte. Seine Antwort ist berühmt; Er bat seine Freunde sich vorzustellen, wie viel schlimmer sein Verhalten wäre, wenn er kein Katholik wäre. Wer wie er an die Erbsünde glaubt, meint damit vielleicht den Spieß umgedreht zu haben, doch wenn man sich Waughs Leben näher ansieht, wird
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