Der Herr vom Rabengipfel
über Karl den Großen . . . Oder sprach ich von Alfred? Wie dem auch sei, beide waren große Männer, kühne Männer, Männer mit Visionen. Kann das nicht warten? Kann Rollo sie nicht später empfangen?«
Weland wandte den Blick von dem schmächtigen Gelehrten, dessen Samen acht totgeborene Kinder hervorgebracht hatte. Das Geschlechtsteil des Mannes war wohl seine einzige Verbindung zu dieser Welt. Gelassen versicherte Weland: »Ihr könnt Euren Vortrag später fortsetzen, Cardle. Rollo wünscht sie jetzt zu sehen.«
»Er weiß es«, sagte Ferlain leise.
»Ja Ferlain, er weiß es.«
»Was weiß er denn?« fragte Cardle und kratzte sich den Kopf. »Was geht hier vor, Ferlain?«
»Geh du weiterhin deinen Studien über Karl dem Großen nach. Oder war es König Alfred? Ich erinnere mich nicht. Und es gibt nichts, was mir gleichgültiger wäre.«
Cardle schnappte hörbar nach Luft. »Das wollte ich dir schon vor Jahren sagen«, lächelte sie. Dann verließ sie erhobenen Hauptes neben Weland den Raum.
»Ich könnte dich auf der Stelle töten lassen, Ferlain. Doch ich will wissen, warum du mich verraten hast. Du bist von meinem Blut und hast mich, hast uns gemeinsam mit Otta hintergangen. Mach dir keine Mühe zu lügen. Wir wissen alles.«
Die dicke, häßliche Ferlain warf den Kopf zurück und sprach mit lauter, fester Stimme: »Du wärst der Nächste gewesen, Onkel Rollo. Du bist ein sabbernder Greis, unfähig, dieses mächtige Reich zu regieren . . .« Sie stockte unsicher. »Was ist los? Du hast dich verändert. Was ist geschehen? Heute morgen noch waren deine Sinne verwirrt, das habe ich selbst gesehen. Du wußtest nicht, was du redest. Auch Otta sagte, es sei Zeit zu handeln, um dich endlich loszuwerden. Ich habe erwartet, einen brabbelnden Greis vorzufinden. Doch nun bist du wieder gesund und kräftig und bei Verstand.«
Rollo lächelte mild von seinem mächtigen Thron herab, dessen Rückenlehne zwei kunstvoll geschnitzte Raben zierten. Der Thron war sehr hoch, denn niemand weit und breit hatte längere Beine als Rollo. Merrik und Laren standen zu seiner Rechten. Ansonsten war nur noch Weland anwesend, der den Blick auf den mit roten Teppichen belegten Holzboden gesenkt hielt.
Schließlich sprach Rollo ruhig: »Es war eine Falle, Ferlain, nur eine Falle.«
»Wo ist Otta?«
»Er ist tot. Er wollte mich umbringen. Und du hast es gewußt.«
»Ja, ich habe es gewußt. Er erzählte mir, daß du ihm eine Geschichte aufgetischt hast, nach welcher mein Vater noch am Leben sei. Das glaubte ich nicht. Ich glaube es immer noch nicht. Mein Vater hat die törichte Schlampe Nirea getötet. Er ist seit Jahren tot, denn er ist fast so alt wie du, Onkel.«
»Ja, es stimmt, ich bin ein alter Mann, Tochter. Aber ich bin noch am Leben und habe meine fünf Sinne beisammen.«
Ferlain stockte der Atem. Sie stand wie versteinert da, gab weder Erstaunen noch Angst über Hallads plötzliches Erscheinen zu erkennen und blickte ihren Vater nur ausdruckslos an. »Ich habe Nirea nicht getötet, das weißt du genau. Sie war eine liebevolle Frau und nicht die treulose Schlampe, als die du sie bezeichnet hast.«
Ferlain zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Dann hat Helga sie getötet. Sie haßte Nirea. Einmal prahlte sie sogar vor mir damit, ihr ein Messer in die Brust zu jagen. Ihr war es einerlei, daß man dich beschuldigte. Sie haßte dich, weil du Nirea zur Frau genommen und mit ihr Kinder in die Welt gesetzt hast. Keine von uns wollte Geschwister, doch das war dir gleichgültig.«
»Helga mag ein wenig überspannt sein, aber sie hat Nirea nicht getötet.«
Laren mischte sich ein: »Du hast mir eingeredet, Onkel Rollo sei in meine Mutter Nirea verliebt und wahnsinnig vor Eifersucht gewesen und . . .«
»Halt den Mund, du dumme Gans!«
Laren blickte ihre Halbschwester verdutzt an. Nie zuvor hatte Ferlain die Stimme erhoben, nie zuvor hatte sie solchen Haß zu erkennen gegeben.
»Wie dumm ich war. Ich hätte meine Männer beauftragen sollen, dich und das Balg, das unser Vater mit Nirea gezeugt hat, zu töten. Statt dessen ließ ich dich an Sklavenhändler in den Süden verkaufen. Ich wollte, daß du leidest, wie ich gelitten habe. Ich wollte, daß du Schmerzen und Hunger und Verzweiflung kennenlernst. Otta wollte dich töten, aber ich ließ es nicht zu. Bei den Göttern, hätte ich nur auf ihn gehört . . .«
»Wir haben genug gelitten, Ferlain«, bestätigte Laren leise. Doch Ferlain hörte nicht zu, sondern schnitt
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