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Der Herr vom Rabengipfel

Der Herr vom Rabengipfel

Titel: Der Herr vom Rabengipfel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Coulter
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entfernt.«
    »Aber nicht so weit von Norwegen entfernt? Von England? Von Irland?«
    »Das geht dich nichts an.«
    Entweder nahm er ihren Hochmut von der heiteren Seite, oder er sah sich gezwungen, ihr den Hals umzudrehen. »Deine Augen wirken in dem hellen Licht eher grau als blau.«
    »Willst du wissen, ob diese Augenfarbe in meinem Land selten ist? Eigentlich nicht. Und deine Augen, Merrik, sind blau wie der Sommerhimmel, klar und rein und scheinbar arglos. Doch in ihren Tiefen verbergen sich Verrat und Lüge. Deine Augen gleichen denen tausend anderer Nordleute. Olegs Augen sind wie deine, nur ein wenig dunkler.«
    »Roran hat schwarze Augen.«
    »Der Mann mit nur einem Ohr? Der sieht aus wie ein Araber. Der ist kein Wikinger.«
    Wo hatte sie sich aufgehalten, bevor sie nach Kiew verschlagen wurde? In Miklagard? Im Kalifat? In Bulgarien?
    »Er ist kein Landsmann von dir.«
    »Er kommt aus Danelagh, in der Nähe von York. Seine Mutter ist sächsisch, sein Vater ein Wikinger Kaufmann.«
    Sie nickte.
    Sie kennt Danelagh, dachte er, zumindest hat sie davon gehört.
    Oleg rief herüber: »Merrik, Eller riecht etwas.«
    »Was bedeutet das?« fragte sie.
    »Ellers Nase hat magische Kräfte. Bleib neben mir sitzen, wir müssen rasch zur Flußmitte rudern.«
    »Ich sehe niemanden am Ufer. Nichts.«
    »Das hat nichts zu sagen. Einmal habe ich nicht auf Ellers Nase geachtet und einen hohen Preis dafür bezahlt. Das war mir eine Lehre. Zieh den Kopf ein.«
    Die Männer arbeiteten schweigend, um das Boot in die starke Strömung der Flußmitte zu rudern. Der Wind fuhr in das große Segel, dessen bunte Vierecke in der Sonne leuchteten. Vier Männer hielten die Leinen, ließen locker, wenn sie zu dicht am Wind segelten und zogen fester, wenn das Segel zu heftig schlug.
    Sie blickte über die Schulter zum Ufer. Dort standen nun schreiende Männer, die drohend mit Speeren fuchtelten und Steine warfen. Sie sahen nicht sehr freundlich aus. Aber was hätten sie dem Wikinger Langboot anhaben können?
    Sie atmete die würzige Luft tief ein. Sie durfte ihm nichts von sich erzählen. Er war der Wahrheit zu nahe gekommen. Die Verantwortung für ihre Zukunft lag ganz allein bei ihr. Die Brise, die ihr wohltuend die Stirn kühlte, schmeckte nach Freiheit. Vielleicht waren sie bald frei ... sie und Taby.
    Sie schaute zu ihrem kleinen Bruder hinüber, der auf Cleves Knie saß, das Köpfchen an seine Brust gelehnt. Sie betrachtete die häßliche Narbe, die Cleves Gesicht entstellte. Welch gemeiner Mensch hatte ihm das angetan? Ohne die Narbe wäre er mit seinen goldenen Locken und dem muskulösen braungebrannten Körper ein gutaussehender Mann. Er hatte ein strahlendes Lächeln und weiße, ebenmäßige Zähne wie der Wikinger.
    Stirnrunzelnd blickte sie auf Merriks Rücken. Der Wind hatte sich gelegt; die Männer arbeiteten wieder an den Rudern. Merrik saß mit nacktem Oberkörper da. Seine Haut war tief gebräunt und umspannte die Muskelpakete an Rücken und Armen. Er ruderte mit kräftigen Zügen, der Schweiß glänzte auf seiner Haut. In den vergangenen Jahren hatte sie viele Männer gesehen — manche waren alt genug, um zu sterben, andere zu jung für die Macht, die sie innehatten; Männer, die an Körper und Geist gebrochen waren oder widerliche Fettsäcke wie Thrasco.
    Dieser Merrik war unbestritten ein schöner Mann. Sein Körper war makellos in seiner Kraft und Gesundheit, sein Gesicht hatte ebenmäßige Züge, die Kühnheit und Entschlossenheit spiegelten.
    Aber er war ein Wikinger. Und die Nordleute waren ihr nicht geheuer. Einen Mann wie ihn hatte sie noch nie kennengelernt, doch das bedeutete nicht, daß sie ihm vertrauen durfte. Das hatte sie in den Jahren ihrer Gefangenschaft begriffen. Sie hatte rasch gelernt, Gemeinheit, Verrat und den Geruch der Lüge zu erkennen. Ihre Nase war ebenso gut wie die Ellers, wenn es darum ging, Eigensucht und Falschheit aufzuspüren, und daher wußte sie um die Bedeutung des Argwohns. Vertrauen war etwas für Dummköpfe, und sie war nicht mehr dumm.
    Dieser Wikinger hatte Taby, Cleve und sie befreit. Aber er schwieg sich darüber aus, was er mit ihnen vorhatte.
    Er war Händler und erst in zweiter Linie Krieger. Er besaß drei Menschen, mit denen er Gewinn machen konnte. Wozu sollte er sie behalten? Seine Erklärung, warum er Taby und sie befreit hatte, klang aufrichtig, und dennoch glaubte sie ihm nicht. Tabys Anblick sollte genügt haben, daß er den Drang verspürte, ihn und sie zu befreien?

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