Der Herr vom Rabengipfel
sich bei ihr. Und als Merrik ihr versicherte, dies sei die beste Mahlzeit seit sie Norwegen verlassen hatten, sagte Taby: »Früher konnte sie nicht kochen. Das besorgte die Dienerschaft, aber als wir . . .«
Sie legte ihm die Hand auf den Mund und flüsterte halblaut: »Das interessiert Merrik nicht, Taby. Schweig!«
Der Kleine schaute sie schuldbewußt an, dann nickte er. Merrik lächelte nur. Er hielt ihm die Hand hin, und Taby betrachtete sie nachdenklich, bevor er zaghaft seine kleine Hand hineinlegte. Merrik sagte leichthin: »Meine Mutter kocht gut. Besucher und Verwandte reisen wegen ihres guten Essens nicht gern ab. Aber jetzt hat sie Schmerzen in den Fingern, und die Arbeit fällt ihr schwer, deshalb lernt sie meine Schwägerin Sarla an.« Und nach einer Pause fügte er stirnrunzelnd hinzu: »Du kochst so gut wie meine Mutter.« Er hob Taby hoch und setzte ihn auf seine Schultern. Die Männer saßen mit dicken Bäuchen um das Feuer und redeten wenig.
»Ich möchte eine Geschichte hören«, sagte Merrik. »Deglin, hast du uns nichts zu erzählen?«
Deglin lächelte schlau. Dann schaute er zu Taby und sagte: »Kennst du die Geschichte von Grunlige, dem Dänen? Nein? Dann setz dich zu Merrik, und ich erzähle dir von ihm.«
Die Männer lehnten sich zurück, denn alle liebten seine
Geschichten, von denen sie die meisten seit ihrer Kindheit kannten.
Deglin war seit vier Jahren Skalde der Haraldssons, und kannte seine Zuhörerschaft genau. Er sprach langsam und legte auf bestimmte Worte besondere Betonung. Dabei beobachtete er die Männer und prüfte ihre Anteilnahme. Mit tiefer Stimme begann er: »Nun hört die Geschichte von Grunlige dem Dänen, der so stark war, daß er einer Kuh mit einem Arm den Hals brechen konnte. Er kämpfte mit vier Stieren, bevor er sie für das Festmahl der Wintersonnenwende schlachtete. Bei all seiner Kraft war er ein Mann von Ehre, der niemanden grundlos verletzte. Als er einmal mit seinen Männern nach Dänemark segelte, geriet er in Treibeis, das sein Schiff wie einen Kienspan zu zermalmen drohte. Grunlige sprang auf eine Eisscholle und begann, sie mit bloßen Händen zu zertrümmern. Seine Männer rieten ihm, seine Hände mit Fellen zu umwickeln, um sich vor der Kälte zu schützen. Doch er hörte nicht auf sie. Er sprang auf die nächste Eisscholle, zertrümmerte auch sie, und dann sprang er zur nächsten. Und als alle Eisschollen zersplittert im Meer schwammen, sprang er in sein Langboot zurück. Dort schaute er seine Hände an, mit denen er schon einen wilden Bären in Island erdrosselt hatte. Sie waren vor Kälte blau gefroren. Und zu seinen Männern sagte er: >Ich habe kein Gefühl mehr in den Händen.<
Seine Männer wickelten seine Hände in Wolle und Felle ein, aber es war zu spät. Die Hände waren erfroren. Als sie im nächsten Frühjahr wieder auftauten, waren sie zu kleinen Pfoten geschrumpft, die Fingernägel blau wie das Eismeer, und jede Kraft war aus seinen Händen gewichen.
Alle bedauerten und beweinten Grunliges trauriges Los. Nur seine Feinde lachten insgeheim, veranstalteten Freudenfeste und schmiedeten hinter seinem Rücken Rachepläne.« Deglin machte eine Pause und lächelte Taby an. »Mehr werde ich heute abend nicht erzählen.«
Taby saß mucksmäuschenstill auf Merriks Schoß und hörte Deglin gespannt zu, nicht anders als die erwachsenen Männer auch. Alle seufzten, da sie wußten, Deglin war nicht zu überreden, seine Geschichte fertig zu erzählen.
»Diese Geschichte erzählt Deglin nur für dich, Taby«, sagte Merrik dem Kleinen. »Danke Deglin. Wirst du uns bald mehr davon erzählen?«
»Ja, Merrik. Doch der Kleine muß jetzt schlafen.«
Laren kroch mit klopfendem Herzen ins Zelt. Deglins Geschichte und ihre Gedanken schwirrten ihr im Kopf herum und wollten ihr über die Lippen sprudeln. Sie rollte sich zwischen zwei Wolfsfellen zum Schlafen ein. Was für eine wundersame Geschichte. Sie brannte darauf, sie weiter zu hören . . .
»Taby schläft bei uns«, sagte Merrik und legte ihr das Kind in die Arme. Mehr sagte er nicht, kroch unter das Fell und war bald eingeschlafen.
Als sie aufschrie, dauerte es keine zwei Atemzüge, und er hielt sein Schwert in der rechten und das Messer in der linken Hand.
Kapitel 6
Jemand beugte sich über sie, so nah, daß sein Atem ihr heiß ins Gesicht schlug, und sie den süßen Wein roch, den er getrunken hatte.
Noch hatte sie keine Angst, war nur verwirrt, mitten in der Nacht aus dem Tiefschlaf
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