Der Herr vom Rabengipfel
Haut, als er die Hose nach unten streifte. Er war sehr behutsam, doch als die Wolle an ihrem Bein kratzte, bäumte sie sich auf und schrie vor Schmerz.
»Es tut weh, ich weiß. Bleib liegen!« Seine flache Hand auf ihrem Bauch drückte ihren Oberkörper auf den Boden.
Er deckte sie mit einem Fell zu und ließ nur das wunde Bein frei. Tränen und Wehlaute schluckte sie tapfer hinunter, um ihm keine Schwäche zu zeigen.
Als seine Finger die Salbe leicht auf die verbrannte Haut auftrugen, mußte sie alle Kraft aufbringen, um still liegenzubleiben und das höllische Brennen auszuhalten. Doch bald setzte die Wirkung der Salbe ein, zunächst fühlte sie eine Mischung von Schmerz und Linderung, von heiß und kalt, und dann folgte eine wohltuende Betäubung. Sie blieb still liegen, angestrengt bemüht, nicht zu stöhnen.
Als die Salbe verstrichen war, meinte er tröstend: »Die Wunde wird bald heilen. Die Verbrennung ist nicht sehr schlimm. Meine Mutter bereitet die Salbe selbst zu, sie enthält Wacholderbeeren und Johanniskraut. Meine Mutter wird dir gefallen. Sie kämpft wie ein Krieger und ist im nächsten Augenblick sanft wie ein Lamm. Sie weiß viel über Arzneien und Heilkräuter. Als kleiner Junge fiel ich beim Raufen mit meinem Bruder Rorik ins Herdfeuer, und sie . . .«
Er wollte sie von ihrem Schmerz ablenken. Sie bemühte sich, seiner tiefen, weichen Stimme zuzuhören, seine Worte zu verstehen, doch es fiel ihr sehr schwer. Als er eine Pause machte, stellte sie leise fest: »Du hast deine Mutter sehr gern.«
»Ja. Meine Eltern sind prächtige Leute. Die besten Eltern, die ich kenne. Sie sind nicht fehlerlos, versteh mich richtig. Anfangs haben sie Roriks irische Frau gehaßt. Doch später haben sie ihre Meinung geändert und eingesehen, daß sie ihr unrecht getan haben.«
Sie nickte. »Es gibt kaum eine Stelle an meinem Körper, die ohne Narben ist. Ich danke dir, Merrik. Du bist gut zu mir.«
»Paß in Zukunft auf, daß du dich nicht wieder verletzt. Es ist nicht mehr viel von der Salbe übrig. Und meine Mutter kann sie nur in den Herbstmonaten herstellen.«
»Jetzt wird wohl nicht mehr viel passieren. Sind wir bald in deiner Heimat?«
»Ja. Trotzdem mußt du lernen, schneller zu sein.«
»Ja. Das nächste Mal bin ich es, die anderen Schmerzen zufügt.«
»Eine Sklavin fügt anderen keine Schmerzen zu«, entgegnete er ohne Gemütsregung. Über die Schulter rief er: »Oleg, bring einen Krug Bier.«
Oleg betrat das Zelt, blickte schweigend auf sie herunter, reichte Merrik den Krug und ging wieder.
Er setzte ihr den Krug an die Lippen, und sie trank einen Schluck.
»Trink aus. Dann kannst du gut schlafen.«
Und sie gehorchte.
In der Ostsee überstanden sie einen Sturm, der zwei volle Tage anhielt, bevor sie den Oslofjord nordwärts nach Kaupang segelten. Laren hatte bei dem Sturm keine besondere Angst, da sie vollauf damit beschäftigt war, Taby zu beschwichtigen, der bis auf die Haut durchnäßt vor Kälte schlotterte. Sie erzählte ihm eine Geschichte nach der anderen. Ihre linke Gesichtshälfte hatte sich von Deglins Fausthieb blau und gelb verfärbt. Ihr Bein schmerzte pochend. Doch der Gedanke, daß Deglins Bein mindestens ebenso brannte, machte ihre Schmerzen erträglicher. Merrik ließ ihn ebenso lang am Ruder sitzen wie die anderen Männer.
Deglin ruderte jammernd, ohne von den Männern beachtet zu werden. Erst nachdem sich der Sturm zu einer sanften Brise gelegt hatte, die das Segel blähte, besserte sich sein Zustand, und er beklagte sich nicht mehr. Schweigend brütete er vor sich hin, und dieses Schweigen erfüllte Laren mit Mißtrauen. Aus Erfahrung wußte sie, daß schweigende Männer Rachepläne schmiedeten. Sie mied seinen finsteren Blick. Seit jener Nacht hatte keiner der Männer sie mehr aufgefordert, die Geschichte von Grunlige dem Dänen weiterzuerzählen. Wenn man sie fragte, würde sie mit der Erzählung fortfahren, denn sie war Deglin keine Rechenschaft schuldig.
Möwen begleiteten das Boot, stießen mit schrillem Kreischen hinab, um im letzten Augenblick die Schwingen auszubreiten und sich wieder emportragen zu lassen. Einer der Seeleute schrie erschreckt auf, als ein Flügel sein Gesicht streifte. Kormorane flogen in loser Formation dem Boot voraus. Die Gespräche der Männer waren lebhafter geworden. Sie redeten von der Heimat, ihren Frauen, den Kindern, der Ernte. Und sie redeten von ihrem Reichtum; jeder war reicher als noch vor wenigen Monaten.
Die Handelsstadt
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