Der Herr vom Rabengipfel
Kaupang war von einem hohen Palisadenzaun umgeben, dessen dichtstehende, zugespitzte Holzpfosten einen zum Wasser offenen Halbkreis bildeten. Etwa ein halbes Dutzend Holzmolen ragten in die schmale Hafeneinfahrt. Merriks Langboot steuerte den nächstgelegenen Steg an. Mit Freudenrufen sprangen die Männer von Bord.
Sie waren nicht nach Kapaung gekommen, um Handel zu treiben. Diesmal wollten sich die Männer vergnügen, denn sie hatten auf der Heimreise von Kiew bis Kaupang keine Frau gehabt, waren ausgehungert und wollten die letzte Nacht in Freiheit genießen, bevor sie zu ihren Familien zurückkehrten. Laren hatte Verständnis dafür. So waren Männer nun mal. Sie nahm es ihnen nicht übel, war nur erleichtert, daß keiner ihr zu nahe kam. Und das hatte sie Merrik zu verdanken.
Als er sie auf dem Holzsteg absetzte, sagte sie: »Ich danke dir für deinen Schutz.«
»Ich konnte dich vor Deglin nicht beschützen.«
»Das meine ich nicht. Die Männer haben ihre Lust nicht an mir befriedigt. Dafür danke ich dir.«
Ohne etwas zu entgegnen, rief er den Männern zu, die als Wache auf dem Boot blieben: »In sechs Stunden sind wir zurück; dann seid ihr an der Reihe.«
Er blickte auf sie hinunter. »Kannst du gehen?«
Sie nickte.
»Cleve wird auf Taby aufpassen. Möchtest du baden?«
Sie betraten die Stadt durch ein hohes Holztor und befanden sich in einer geschäftigen Gasse, in der emsiges Treiben herrschte. Zu beiden Seiten standen dichtgedrängt niedere Holzbauten, gesäumt von Gehwegen aus Holzplanken. Überall handelten und feilschten die Menschen. Alles redete und schrie durcheinander. Sie wäre gern einen Augenblick stehengeblieben, um die schönen Schalen aus Speckstein zu bewundern, die an einem Stand feilgeboten wurden. Doch Merrik ging unbeirrt weiter. An einem anderen Stand wurden Waffen angeboten, und sie hätte gerne ein Messer gekauft, fürchtete aber, daß ihre vier Silbermünzen nicht ausreichten. Merrik führte sie zu einer Badehütte, wo eine alte Frau argwöhnisch ihre abgetragene Hose und den schmutzigen Kittel beäugte.
Nach einer Stunde umständlicher Prozedur, in der es ihr gelang, das verletzte Bein trockenzuhalten, hatte sie ihr Haar und ihren Körper gewaschen. Sie trug wieder den schmutzigen Kittel, als Merrik die dämmrige Badehütte betrat und ihr ein sauberes Leinenhemd zuwarf.
»Zieh das an. Hier ist auch ein Gewand und ein Umhang. Du sollst nicht aussehen wie ein verhungerter Bettler, wenn wir nach Hause kommen.«
»Danke.« Mehr brachte sie nicht hervor.
»Wenn du angezogen bist, gehen wir zum Schuster. Du brauchst Schuhe.«
Als sie etwa drei Stunden später zum Langboot zurückkam, war sie gesättigt, trug ordentliche Frauenkleider und weiche Lederschuhe. Seit zwei Jahren hatte sie keine Schuhe mehr an den Füßen gehabt.
»Ich habe Angst«, sagte sie, als sie langsam neben ihm humpelte, er aber keine Anstalten machte, sie zu stützen. Für seine Zurückhaltung war sie ihm dankbar.
»Warum?«
»Was wirst du mit mir und Taby anfangen? Was wirst du mit Cleve machen?«
Er runzelte die Stirn, sagte aber nur: »Das wirst du noch früh genug erfahren. Mal sehen, ob Cleve anständige Kleider für Taby besorgt hat.«
Ihr kleiner Bruder war ebenso frisch gewaschen und sauber gekleidet wie sie. Zu ihrem Erstaunen trug auch Cleve einen neuen Kittel, neue Hosen und Schuhe mit weichen Lederriemen, die bis zu den Knien geschnürt waren. Er grinste und warf sich stolz in die Brust. Von der entstellenden Narbe nahm sie kaum noch Notiz. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte Laren. Sie wandte sich an Merrik, stieß einen Jubelruf aus und schlang ihre Arme um ihn. »Danke«, rief sie und blickte freudestrahlend zu ihm auf. Erst dann wurde sie sich ihres ungestümen Gefühlsausbruchs bewußt, in dem sie sich hinreißen ließ, ihn wie einen Freund zu umarmen. Und ihr wurde seine Männlichkeit bewußt; er war stark und schön. Seinen jungen, muskelgestählten Körper zu spüren, löste ein wohliges Prickeln in ihr aus. Eine seltsame, unbekannte Empfindung, deren Heftigkeit sie erschreckte und zugleich drängte, sich noch enger an ihn zu schmiegen, um dieses beseligende Gefühl länger zu genießen.
Es dauerte eine Weile bis Laren merkte, daß er stocksteif mit hängenden Armen dastand. Sie hatte ihn mit ihrem Überschwang in Verlegenheit gebracht. Für ihn war sie nur eine Sklavin; sie bedeutete ihm nichts. Abrupt löste sie sich von ihm und trat mit beschämt gesenktem Kopf einen Schritt
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