Der Herr vom Rabengipfel
zurück.
Taby bemerkte nichts von ihrer Befangenheit. Cleve hatte ihn abgesetzt, und der Kleine zupfte solange an Merriks Kittel, bis er sich bückte und ihn hochhob. Das Kind schlang seine dünnen Ärmchen um Merriks Hals und drückte ihn fest an sich. »Ich bin ein kleiner Prinz«, lachte er. »Du hast Kleider für einen Prinzen gekauft. Eines Tages werde ich dich dafür belohnen.«
Merrik durchbohrte ein bittersüßer Stich. Er roch den süßen Kindergeruch und hörte beglückt das Kinderlachen. Dieses Kind würde er nie wieder hergeben, niemals.
»Ich danke dir, Prinz Taby«, sagte er geschmeichelt.
Laren stand neben Cleve, blickte ihn und Taby an, und in ihrem Gesicht war ein Ausdruck, den er nicht zu deuten wußte. Hatte sie Angst vor ihm? Soeben noch hatte sie überschwenglich die Arme um ihn geschlungen. Fürchtete sie, daß er ihr Taby wegnehmen würde? Als sie ihn umarmte, stieg Lust in ihm hoch, die er schleunigst verdrängte. Sein Verlangen rührte sicher nur daher, daß er so lange keine Frau gehabt hatte. Er wandte den Blick und streichelte Taby, der immer noch sehr hager war.
Mit geschlossenen Augen genoß er die Wärme des Kinderkörpers, erfüllt von dem Glücksgefühl, daß er vom Schicksal auserwählt war, diesen kleinen Menschen zu beschützen und großzuziehen. Und Laren war seine Schwester. Wieder ging ihm die Frage durch den Kopf, woher Laren und Taby wohl kommen mochten.
Vestfold war ein großes Land. Steile Berge säumten den Fjord, die Gipfel waren häufig wolkenverhangen, und die Flanken mit Föhren und Eichenwäldern bestanden. Dazwischen stürzten Felshänge senkrecht ab, die sich im glatten Wasser des Fjords spiegelten.
Die Luft war lau, die Sonne stand hoch am Himmel. Das Land war von unglaublicher Schönheit. Laren vermochte den Blick nicht von den Felswänden zu wenden, die mit jeder Biegung des Fjordes höher aufragten.
»Das ist meine Heimat«, sagte Merrik. »Bald kommen wir am Gravaktal vorbei. Dort leben einige meiner Vettern.«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
»Machen wir dort Halt?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich will nach Hause. Ich habe ein seltsames Gefühl. Das gefällt mir nicht.«
Laren hatte gelernt, solche Ahnungen nicht beiseite zu schieben. »Was für ein Gefühl?«
»Eine sonderbare Unruhe drängt mich, nach Hause zu kommen. Irgend etwas scheint nicht in Ordnung zu sein.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Es ist sicher nichts. Ich fange an, närrisch zu werden wie ein Weib.«
»Ich bin kein närrisches Weib.«
»Gut. Dann werde ich eben närrisch wie ein Weib, das nicht ist wie du.«
»Hat dein Zuhause einen Namen?«
»Ja. Das Gehöft meines Vaters heißt seit Menschengedenken Malverne. Der Name ist so alt wie diese Berge. Niemand weiß, was er bedeutet, und aus welcher Sprache er stammt.«
»Malverne«, wiederholte sie. »Ein merkwürdiges Wort, das auch mir nicht bekannt ist. Aber es ...« Ihre Stimme stockte und brach ab.
Dann sagte sie in gespielt heiterem Tonfall: »Erzähl mir von deinen Vettern.«
»Einer meiner Vettern ist mit einer Frau verheiratet, die nichts hören kann. Sie heißt Lotti.«
Laren konnte sich das gar nicht vorstellen. »Und sie lebt?«
»Ja. mein Vetter Egil hat sich ihrer angenommen, als sie in Tabys Alter war. Sie liest ihm die Worte von den Lippen ab, und Egil hat eine Zeichensprache mit den Fingern erfunden. Es ist spannend zuzusehen, wie die beiden sich in der Fingersprache unterhalten und merkwürdige Figuren bilden. Und dann lachen sie, weil sie sogar Witze mit den Fingern machen. Sie sind sehr glücklich und haben vier Kinder. Lotti ist eine wunderbare Frau.«
Sie nickte schweigend. Die Männer ruderten nun in Ufernähe an den hoch aufragenden Felswänden vorbei, die die Sonne verdeckten. »Ich habe von dem strengen Winter im Norden gehört ...« Wieder führte sie den Satz nicht zuende. Er drängte sie nicht, blickte nur die Felswände hinauf. Sie setzte hinzu: »Die Berge sehen unbezwingbar aus.«
»Nicht unbezwingbarer als die meisten Dinge im Leben«, entgegnete Merrik. »Aber wenn die Tage kurz, Berge und Wälder mit Schnee bedeckt sind, ist alles gleichförmig, und das schlägt aufs Gemüt. Während der Wintermonate verbringen wir die meiste Zeit im Langhaus. Der Schnee liegt dann so hoch, daß ein Mann darin versinken kann.« Und nach einer Pause: »Wenn man allein im verschneiten Wald steht, und ringsherum alles weiß und ganz still ist, kehrt tiefe Ruhe ins Herz ein.«
»Ich habe
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