Der Herr vom Rabengipfel
hinüber, die mit gesenktem Kopf dastand. Schließlich war Deglin der Skalde. Also bestimmte Merrik: »Deglin, heute abend wirst du die Geschichte von Grunlige dem Dänen weitererzählen.«
Niemand erhob einen Einwand. Die Männer nahmen die Ruder wieder auf, und das Langboot glitt rasch durch das Wasser. Alles war wieder, wie es sein sollte. Laren hatte in den vergangenen zwei Jahren gelernt, ihren Zorn zu bezwingen. Freundlich blickte sie zu Deglin hinüber, der ihr Lächeln erwiderte. Doch sein Lächeln war keineswegs freundlich.
Schade, dachte sie, die vier Silbermünzen würden sich nicht vermehren.
Am Abend stand sie mit dem Alten Firren und Cleve am Lagerfeuer und kochte, schweigend in ihre Arbeit vertieft. Die Nacht war klar, die Sterne leuchteten hell vom Himmel, in wenigen Tagen würde Vollmond sein. Das Boot lag mit Fichtenzweigen zugedeckt auf einem schmalen Sandstreifen, und die Zelte, vor denen kleine Feuer brannten, waren aufgeschlagen. Der Duft von geschmortem Wild durchzog die laue Nachtluft.
Als die Männer mit vollen Bäuchen auf ihren Pelzdecken um das Feuer lagerten, erhob sich Deglin, reckte sich zu voller Größe, die jedoch nicht sonderlich beeindruckend war, hüstelte hinter der hohlen Hand und nahm einen Schluck Bier. Er blickte in die Runde und begann mit volltönender Stimme: »Als Grunlige der Däne sich die Hände im Eis erfroren hatte, wußte er, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er hatte sich unverwundbar gefühlt, doch nun hatte er einen Teil seines Körpers getötet. Nicht seine Feinde, nein er selbst hatte es getan. Er war ein stolzer Mann, ein Mann, mit dem sich niemand messen konnte, ein Mann von großer Kraft und großem Geschick, der sich nun durch eigene Schuld die Hände erfroren hatte. Er blickte auf sie herab, sah die geschrumpften Pfoten, die blauen, starren, gebogenen Krallen. Er rief seinen Sohn zu sich und sprach: >Innar, mit mir ist es vorbei. Ich vererbe dir all meinen Besitz. Füge dir keinen Schaden zu, wie ich es getan habe.<
Dann umarmte er seinen Sohn und entließ hin. Drei Tage später fanden die Männer Grunliges Leichnam in einer Felsschlucht. Er hatte sich von einem Gefährten die Hände abhacken lassen, die zusammengeschrumpft und geschwärzt neben ihm in der Morgensonne lagen. Und alle wußten, daß er seine Hände angestarrt hatte, bis all sein Blut aus ihm geflossen und er gestorben war.
Sein Sohn Innar beweinte ihn nicht, da er der Ansicht war, sein Vater habe das Richtige getan. Auch Innar war stolz und selbstbewußt, hatte jedoch keinen großen Respekt für den alten Mann, dessen Lenden er entsprungen war. Innars Ehrgeiz lag nicht darin, Stieren das Genick zu brechen, oder anderen Menschen seinen Willen aufzuzwingen, denn er verfügte nicht über die großen Kräfte seines Vaters. Sein Plan war, auf Raubzug zu gehen und Reichtümer anzuhäufen. Was sein Vater ihm hinterlassen hatte, war ihm nicht genug.
Er versammelte die Gefolgsleute seines Vaters um sich und eröffnete ihnen, daß er mit ihnen nach Kiew reisen wolle. Auf dieser Reise würden sie Sklaven entführen und auf dem Sklavenmarkt von Khagan-Rus verkaufen. Er fühlte sich im Kreise der Gefährten seines Vaters sicher, denn alle waren erfahrene Krieger und verstanden sich aufs Töten und Plündern. Auf ihrem Weg nach Kiew erschlugen sie viele wilde Stämme und entführten ihre Frauen. Und Innar ließ überall verkünden, daß er es war, der die wilden Stämme vernichtet hatte, damit ein jeder
nah und fern von seiner Kriegskunst und seiner Macht
wußte.«
Die Zuhörer warfen einander heimliche Blicke zu, in denen Langeweile, Mißmut und Ratlosigkeit stand. Murren kam auf.
Deglin fuhr eilig fort: »Innar war für sein Verhandlungsgeschick auf dem Sklavenmarkt berühmt. Eines Tages entdeckte er dort ein abgemagertes und zerlumptes Mädchen, das er kaufte und mit in die Heimat nahm. Doch er wußte nicht, daß das Böse in ihr wohnte. Die junge Frau wollte lieber ein Mann sein und die Kraft, das Geschick und den Verstand eines Mannes besitzen. Sie wollte es den Männern gleichtun, doch das gelang ihr nicht. Und ihr Haß wuchs, da sie ihre Unterlegenheit erkannte.«
Das Murren wurde lauter, Deglins Worte gingen in den Protesten der Männer unter, die Merrik finstere Blicke zuwarfen. Merrik blieb stumm und sah Deglin nachdenklich an. Schließlich hob er die Hand und verschaffte sich Gehör: »Die Geschichte nimmt keinen guten Verlauf, Deglin.« Und mit leiser Stimme, bei deren Klang
Weitere Kostenlose Bücher