Der Herr vom Rabengipfel
Ledergurt um den Handrücken geschlungen, sah ihre Mutter mit entblößtem Rücken auf Knien liegen, sah, wie der Gürtel erbarmungslos auf ihren Rücken niedersauste, bis sie blutüberströmt zusammensackte. Sie sah, wie ihr Vater sich ihr zuwandte, und sie sah das grimmige Lächeln in seinem Gesicht. Sarla fröstelte. Bei Erik hatte sie es besser. Außerdem hatte er seine Nebenfrauen und belästigte sie nicht oft. Immerhin hatte er sie noch nie geschlagen.
Sie trat zögernd auf ihn zu und blieb mit gesenktem Kopf vor ihm stehen.
Seine Hand schloß sich um ihren Oberarm. »Ich will dich heute nacht«, sagte er.
Laren beobachtete die beiden mit Besorgnis. Taby sagte leise neben ihr: »Merriks Vater und Mutter sind tot, wie unsere Eltern. Er ist sehr traurig, Laren.«
»Ja. Und er hat sich so gefreut, sie wiederzusehen.« Sie dachte an seine seltsame Vorahnung.
Während sie die Decken auf dem festgestampften
Lehmboden ausbreitete, stapfte Taby durch den großen Raum auf das große Tor zu. Sie wollte ihn zurückrufen, doch die meisten Bewohner hatten sich schon in ihre Decken gewickelt und zum Schlafen zusammengerollt. Laren stand auf und folgte dem Kind.
Taby entdeckte Merrik, der an den Palisadenzaun gelehnt in den sternenübersäten Nachthimmel blickte. Vor ihm lag das dunkle Wasser. Die Berge zu beiden Seiten des Fjordes standen in erhabenem Schweigen.
»Es tut mir leid, daß deine Eltern gestorben sind«, sagte Taby und blickte zu dem großen Mann auf, zu dem er tiefes Vertrauen gefaßt hatte.
Merrik schaute auf das Kind hinunter. Ein Knoten schnürte ihm die Kehle zu. Seine Wangen waren tränennaß, und er schämte sich nicht.
»Ich kann mich nicht an meine Mutter und meinen Vater erinnern«, fuhr Taby nach einer Weile fort. »Ich war noch ganz klein, als sie starben. Aber Laren erzählt mir manchmal von ihnen. Sie kann gut Geschichten erzählen.«
»Ich weiß.«
»Manchmal weint sie wie du. Und wenn ich sie nach dem Grund frage, sagt sie, es ist die Erinnerung an unsere Eltern, und sie spürt ihre Nähe. Aber ich weiß nicht, was sie damit meint.«
Merrik wußte es. Er bückte sich, hob Taby hoch und trug ihn zu einer uralten, knorrigen Eiche. Dort setzte er sich, und begann Tabys Rücken zu streicheln.
»Ich hatte Glück, daß meine Eltern mich bis in mein Mannesalter begleiteten«, sagte er leise. »Doch das macht ihr Fortgehen um so trauriger, weil ich sie so lange kannte. Sie waren meine besten Freunde. Mein Vater war ein stolzer Mann und einer, der seine Frau und seine Kinder sehr liebte, ein Mann, der nie ungerecht war oder andere im Zorn verletzte.«
»Er war wie du«, sagte Taby und schmiegte sich an Merriks Schulter.
Merrik lächelte. »Es wäre eine Ehre für mich, wie mein Vater zu sein. Meine Mutter hättest du sehr gern gehabt, Taby. Alle Kinder scharten sich um sie, und allen gab sie Liebe und gute Worte. Sie war warmherzig und stark, und mein Vater versuchte nie, eine unterwürfige Dienerin aus ihr zu machen.«
»So wie Laren.«
Sein Gesicht verdunkelte sich. »Kaum. Meine Mutter war anders. Deine Schwester ist stolz, eitel und hochmütig.«
»Ich weißt nicht, was du meinst«, entgegnete Taby. »Laren ist meine Schwester. Für mich würde sie töten. Und sie würde für mich sterben.«
»Das mag stimmen«, sagte Merrik. Er wollte nicht von Laren sprechen. Sie zählte nur, weil sie Tabys Schwester war. Aber er erinnerte sich auch noch deutlich an das Gefühl, das in ihm hochgestiegen war, als sie sich in Kaupang an seine Brust geworfen hatte, nachdem er Kleider für Taby und Cleve gekauft hatte. Da hatte sie sich weich und warm angefühlt. Er sprach weiter: »Ich muß Malverne bald verlassen. Der Hof gehört jetzt meinem Bruder. Er und Sarla werden Kinder haben, und dann wird es hier zu eng für uns. Meinem Bruder Rorik gehört eine ganze Insel vor der Küste von Ostanglien. Die Habichtsinsel. Ich muß mich selbständig machen wie er. Was hältst du davon, Taby?«
Taby war eingeschlafen.
Laren trat in sein Blickfeld und sagte leise: »Ein Mann muß sein eigener Herr sein, der seinen eigenen Grund und Boden bestellt.«
Merrik schwieg. Sie hatte sich lautlos wie ein Schatten angeschlichen und gelauscht. Das mißfiel ihm. Er hatte über sie geredet, das ging sie nichts an. Seine an
Taby gerichteten Worte waren eigentlich ein Selbstgespräch.
»Es paßt mir nicht, daß du mich heimlich belauschst. Aber ich sage dir meine Meinung auch ins Gesicht: Du bist hochmütig wie ein
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