Der Herr vom Rabengipfel
unter mir wie ein toter Fisch, und dann überfällst du mich.«
»Ich tue es so lange wieder, bis du zu mir kommst. Du kannst mich bezwingen, weil du der Stärkere bist, aber du bist nicht stark genug, um mir zu verweigern, worauf ich Lust habe.«
Mit einem süßen Lächeln schlug sie ihm die flache Handkante in die Armbeuge. Er knickte ein und fiel schwer auf sie, daß ihr die Luft wegblieb. Sie nahm ihn bei den Ohren, küßte seine Kehle und seine Schultern. Merrik mußte lachen.
»Vergiß nicht, ich bin ein kluges Kind«, raunte sie.
»Das vergesse ich nicht. Und warum tust du das?«
Sie sah ihn im fahlen Zwielicht an. Ihr Blick war wie Balsam und gleichzeitig unendlich aufreizend. Und ihr Lachen klang wie verheißungsvolle Musik. Ja, sie verlangte nach seinem Kuß. Die Worte, die er jetzt sprach, versetzten ihn selbst in Erstaunen: »Du kannst mit mir tun, was du willst.«
»Komm zu mir.« Sie wußte, was sie wollte, denn sie hatte sich lange genug danach gesehnt, vermutlich schon auf dem Schiff. Zumindest hatte sie ihn damals schon als einen begehrenswerten Mann gesehen, und nicht als gewalttätigen Feind. Als einen Mann, der gut zu ihr war und dessen zärtliche Hände ihr Vergnügen zu bereiten wußten.
Ihr Leben hatte sich seit jener längst vergangenen Nacht, in der sie und Taby entführt worden waren, drastisch verändert. Ihre Zukunft lag im Ungewissen. Sie glaubte nicht mehr, daß es für sie ein glückliches, sorgenfreies Dasein geben könnte. Sie hatte den christlichen Glauben angenommen, weil ihr Onkel es von ihr und von der ganzen Familie verlangt hatte, doch sie hatte nie zum Gott der Christen um ihre Rettung gebetet, ihn nie angefleht, ihr den rechten Weg zu weisen, oder die richtige Entscheidung für sie zu treffen.
Sie hatte sich Taby verpflichtet gefühlt und sich seinetwegen bemüht, in die Heimat zurückzukehren, um zu erfahren, wer den Verrat begangen hatte. Sie hatte sich geschworen, ihrem Bruder seine Rechte wiederzugeben, die ihm weggenommen worden waren. Doch das lag in einer fernen Zukunft. Jetzt zählte nur die Gegenwart, in der sie nicht einmal mehr wüßte, ob sie das wiederhaben wollte, was ihr genommen worden war. Jetzt gab es nur Merrik, und ihn wollte sie haben.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie wieder eigene Wünsche, und wenn Merrik nur wollte, würde sie ihn bekommen. Nur diese eine Nacht sollte er ihr gehören. »Ja«, raunte sie mit vor Erregung belegter Stimme. »Komm zu mir, Merrik.«
Er näherte sich ihr. Ihre Hände schlossen sich wieder um sein Gesicht, ihre Fingerspitzen zeichneten seine Augenbrauen nach. Ihr warmer Atem berührte sein Gesicht. Sie begehrte ihn sehnsüchtig.
»Komm zu mir«, widerholte sie, und diesmal küßte er sie mit offenem Mund und ließ sie von ihm kosten. Als seine Zunge die ihre berührte, erbebte sie. Und auch ihn durchfuhr ein Schauer. »Öffne deine Lippen«, flüsterte er.
»Laren.« Er sagte nur ihren Namen, und sie trank ihn durstig. Sie begehrte ihn. Und sie war Jungfrau.
Dieser Gedanke brachte ihn zur Vernunft. Er löste sich von ihr. »Hör zu, bevor ich mich vergesse.« Seine Augen glühten samtweich. Sie hob ihm begehrlich ihre Lippen entgegen. Mühsam wandte er den Blick und zwang sich, die Worte auszusprechen. »Willst du wirklich meine Hure sein?«
Er hatte absichtlich dieses häßliche Wort gewählt, um sie zu erschrecken, um sie zu Verstand zu bringen, um an ihren Stolz, ihren Hochmut zu appellieren. Sie wollte ihre Unschuld mit Sicherheit nicht an einen Mann verschenken, dem sie nicht versprochen war. Vermutlich war sie eine ehrbare Kaufmannstochter aus dem Rheinland oder die Tochter eines Schusters aus einem Dorf an der Seine im Fränkischen Reich, möglicherweise war sie sogar die Tochter eines Edelmannes aus der sengendheißen Hochebene von Cordoba in Spanien. Sie verdiente mehr, als er ihr geben konnte, als nur der Befriedigung seiner Lust zu dienen.
In ihrer Antwort schwang ihr ganzer Stolz und Hochmut: »Nein. Ich werde nie die Hure eines Mannes sein. Ich will dich nur heute nacht. Du wirst mich lehren, was ich wissen muß. Ich möchte diese Empfindungen einmal im Leben auskosten, das genügt mir. Ich weiß ja gar nicht mit Gewißheit, ob solche Gefühle überhaupt existieren. Gefühle, die bewirken, daß eine Frau alles für den Mann hingibt, der sie in ihr geweckt hat. Was ist, wenn die Gefühle schwinden, und der Mann bleibt? Ich will das Geheimnis kennenlernen, und ich will, daß du mein Lehrer
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