Der Herr vom Rabengipfel
Er erbebte in der Erinnerung an diesen Glücksmoment. »Es tut bald nicht mehr weh. Ich glaube nicht, daß ich dich heut nacht noch einmal nehme. Vielleicht morgen, wenn du keine Schmerzen mehr hast.«
Sie öffnete die Augen und sah ihn lange unverwandt an.
»Es tut mir leid«, wiederholte er.
»Was tut dir leid? Ich habe dich darum gebeten. Du hast nur meinen Wunsch erfüllt. Du hast nicht anders gehandelt als jeder normale Mann. Es ist meine Schuld. Ich schäme mich meiner Nacktheit, weil ich häßlich und mager bin. Ich will nicht, daß du mich so ansiehst. Deck mich zu, Merrik.«
Er deckte sie zu. »Du bist nicht häßlich«, sagte er. »Sag so etwas nicht.«
Sie hob die Hand, um sein Gesicht zu berühren, doch dann ließ sie sie wieder sinken.
Er wünschte, sie hätte ihn berührt. Schließlich entfernte er das Tuch. »Die Blutung hat aufgehört. Tut es noch weh?«
Sie nickte mit abgewandtem Gesicht.
»Morgen ist alles vorbei«, sagte er im Aufstehen und warf den blutigen Lappen in die Schüssel. Dann legte er sich zu ihr und zog sie an sich. »So ist es gut«, lächelte er. »Das gefällt mir.«
»Mir auch«, schnurrte sie und barg ihr Gesicht an seiner Brust, genoß seinen Duft und seine Brusthaare, die ihre Nase kitzelten. Und sie wußte, daß ihr Leben erneut eine Wendung genommen hatte. Denn alles hatte sich geändert, und ihre Bestimmung hatte keine Bedeutung mehr. Nun war Merrik das Wichtigste in ihrem Leben.
Und Taby? Was sollte aus ihrem kleinen Taby werden? Sie mußte versuchen, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie schloß die Augen, um in das Vergessen des Schlafes zu versinken. Doch es gelang ihr nicht, die Last der Verantwortung, die außerhalb der Schlafkammer auf sie wartete, zu verdrängen.
Vierzig Silberstücke und zwei silberne Armreifen . . . Sie mußte wissen, ob sie sich ihm anvertrauen durfte ... sich und Taby.
Die Nacht war kühl. Die Sichel des zunehmenden Mondes stand am klaren Sternenhimmel. Laren kehrte um und ging langsam auf das Langhaus zu. Sie wäre lieber ohne anzuhalten durch die Palisadentore gegangen, denn hier gab es keinen Platz für sie.
Am Nachmittag hatte sich Erik ihr in den Weg gestellt. Vor seiner Frau und vor seinen Männern hatte er ihr grob das Kinn gehoben und sie gezwungen, ihm ins Gesicht zu sehen. Barsch hatte er sie angefahren: »Megot sagt, auf dem Laken in Merriks Schlafkammer ist ein Blutfleck. Und in einer Schüssel hat sie einen blutigen Lappen gefunden. Du hast also nicht gelogen. Du hast deine Monatsblutung, und er hat dich dennoch beschlafen, mein wählerischer Bruder.« Damit ließ er sie los. Und über die Schulter warf er ihr noch verächtlich hin: »Du bist immer noch mager wie eine Henne im Winter. Merrik wird dich bald satt haben.«
Sie fröstelte, aber nicht auf Grund des kühlen Windes, der vom Fjord heraufwehte, sondern bei der Erinnerung an Eriks Worte. Sie hatte Angst vor ihm, große Angst. Und sie haßte ihn. Sarla litt unter seiner Untreue, und er kümmerte sich nicht darum.
Er war ganz anders als Merrik. Merrik würde keine Frau schlagen. Auch er konnte gewalttätig und grausam sein und ohne Gewissensbisse töten, oder kannte keine
Gnade mit einem besiegten Feind. Einem Schwächeren würde er jedoch niemals Schmerzen zufügen.
Das große Haustor stand weit offen. Männer, Frauen und Kinder standen in kleinen Gruppen beieinander, lachten oder zankten sich. In einer Ecke rauften wieder einmal zwei Männer. Sie konnte Merrik nicht sehen. Ihre Augen waren ständig auf der Suche nach ihm und erst, wenn sie ihn gefunden hatte, fühlte sie sich wohler. Den ganzen Tag hatte sie ihn kaum zu Gesicht bekommen. Er hatte bis zum Sonnenuntergang auf dem Feld gearbeitet, und dann war er mit ein paar Männern lachend, scherzend und einander schubsend in die Badehütte gegangen. Die letzte Nacht hatte ihm nichts bedeutet. Was hatte sie erwartet?
Sie hatte diesmal nicht angeboten, das Nachtmahl zu kochen. Sarla, die spürte, daß Laren etwas bedrückte, hatte sie auch nicht darum gebeten, sondern ihr nur den Arm getätschelt. Laren hatte dabei geholfen, die Gäste zu bedienen. Danach war sie ins Freie gegangen. Und nun zögerte sie, das Haus wieder zu betreten. Seufzend straffte sie die Schultern und ging hinein. Niemand beachtete sie, nicht einmal Taby, der sich von Kenna ein paar neue Griffe beim Ringen zeigen ließ. Sie nahm sich Fleisch, gekochte Rüben, Erbsen und gedünstete Äpfel. Eine seltsame, aber schmackhafte
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