Der Herr von Moor House
sich einen Tropfen. Trotzdem ist er verlässlich, und er wird gut auf das Haus aufpassen.”
Betsy lächelte verständnisvoll. Bis jetzt hatte sie noch keinen jungen Lakaien kennengelernt, der sich nicht an den Karaffen seines Herrn vergriffen hätte. “Wenn jemand Wache hält, werden wir viel ruhiger schlafen”, meinte sie. “Nicht, dass der Zwischenfall meine Herrin sonderlich aufgeregt hätte. Da müsste schon was Schlimmeres geschehen, um Miss Megan aus der Fassung zu bringen.”
“Darauf müssen Sie uns nicht hinweisen”, erwiderte Mrs Goss lächelnd. “Immerhin kennen wir Miss Megan, seit sie ein Baby war. So ein liebes, gutes Kind! Sie kam sehr oft hierher. Gewissermaßen hielten wir sie alle für ein Familienmitglied.”
“Was sie auch sein müsste”, warf der Butler ein.
“Es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen, Mr Wilks.” Seufzend starrte Mrs Goss den Rest ihres Kuchens an. Dann schob sie den Teller beiseite, als wäre ihr plötzlich der Appetit vergangen. “Wissen Sie, Miss Stoddard – zwischen Miss Megan und unserem jungen Master gab es keine offizielle Vereinbarung”, fuhr sie mit belegter Stimme fort. “Die beiden mochten sich sehr gern. Und wir alle dachten, sie würden eines Tages heiraten. Leider kam es nicht dazu.”
Warum nicht?, fragte sich Betsy. Inzwischen hatte sie Christian Blackmore als klugen, besonnenen, verantwortungsvollen Gentleman kennengelernt. Wieso hatte sich ausgerechnet er zu einer überstürzten Heirat entschlossen? Das würde sie gern herausfinden. Aber ihrer Erfahrung nach war es besser, loyalen, alteingesessenen Dienstboten mit Vorsicht zu begegnen. Sie verhielten sich ihr gegenüber freundlich und offenherzig. Trotzdem würde sie auf eine Mauer eisigen Schweigens stoßen, wenn sie indiskrete Fragen nach dem Privatleben des Masters stellte.
Nein, es war wohl besser, erst einmal abzuwarten und die Leute näher kennenzulernen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Dann würden sie von sich aus erzählen, was damals geschehen war. Eifrig und erfreut nahm sie ein zweites Stück Kuchen an, womit sie zumindest in der Achtung der stolzen Köchin stieg.
6. KAPITEL
Am nächsten Morgen bereitete sich Megan auf den Besuch in ihrem Elternhaus vor und machte sich darauf gefasst, Christians Gesellschaft wieder einmal für längere Zeit zu ertragen. Wenigstens würde sie nicht mit ihm allein sein. Bei ihrer Nichte würde sie Trost und Unterstützung finden.
Außerdem, dachte sie und setzte einen hübschen lavendelblauen Seidenhut auf ihre kunstvolle Lockenfrisur, könnte ich ihm sowieso nur aus dem Weg gehen, wenn ich die ganze Zeit in meinem Zimmer bliebe. Und das kam nicht infrage. Am vergangenen Nachmittag hatte sie ihn nicht gesehen, aber den ganzen Abend, der ebenso vergnüglich verlaufen war wie der erste Abend. Christian hatte sich erneut als höflicher, unterhaltsamer Gastgeber erwiesen und seinen bemerkenswerten Charme versprüht.
Zufrieden mit ihrer äußeren Erscheinung, wandte sie sich vom Spiegel ab, sah das selbstgefällige Lächeln ihrer Zofe und war sofort misstrauisch. “Heute Morgen schauen Sie verdächtig frohgemut drein, Betsy. Haben Sie etwa die Dienstboten beleidigt?”
“Natürlich nicht”, erwiderte Betsy, kein bisschen gekränkt über diese unbegründete Vermutung. “Da Miss Sophie von der kleinen Rose betreut wird, finde ich genug Zeit, um den Leuten zu helfen. Dafür sind sie sehr dankbar, weil eine Küchenhilfe erkältet ist und im Bett liegt.”
Mit dieser Erklärung vermochte sie Megans Unbehagen nicht zu lindern – ganz im Gegenteil. “Niemand käme jemals auf die Idee, Ihnen vorzuwerfen, Sie wären arbeitsscheu, Betsy. Aber ich fürchte, Sie führen irgendwas im Schilde. Da fällt mir ein …” Mit schmalen Augen erwiderte Megan den engelsgleichen Unschuldsblick ihrer Zofe. “Warum haben Sie nicht protestiert, als Rose einen Teil Ihrer Pflichten übernahm? Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Ihren Aufgabenbereich kampflos preiszugeben.”
“Nun ja, Mrs Goss meint, das Mädchen soll Erfahrungen sammeln. Wenn wir beide nach Somerset zurückkehren, braucht Miss Sophie eine Zofe. Sicher wird Rose Ihre Nichte gut betreuen, Miss Megan. Sie kann die junge Dame viel besser frisieren als ich. Und ich helfe sehr gern in der Küche aus. Immerhin war ich mal Köchin und Haushälterin, bevor ich zu Ihnen kam.”
“Jetzt weiß ich, was Sie vorhaben!” Anklagend hob Megan einen schmalen, von lila Glacéleder umhüllten Finger. “Sie wollen
Weitere Kostenlose Bücher