Der Herr von Moor House
Routiniert verknotete Christian seine Krawatte. “Selbst wenn ich noch hundert Jahre leben sollte – dieses Geschlecht werde ich nie verstehen.”
“Da bist du nicht der Einzige.” Christian warf ihm einen prüfenden Blick zu. “Hast du wieder mit meinem Mündel gestritten?”
“Oh nein, Sophie ist sehr nett. Natürlich hat sie sich furchtbar aufgeregt, als du an jenem Tag in dein Zimmer getragen wurdest, und ich musste stundenlang auf sie einreden, um ihr klarzumachen, dass du nicht ernsthaft verletzt bist.” Verwirrt schüttelte Giles den Kopf und ließ sich in den Sessel neben dem Bett fallen. “Es ist
Megans
Verhalten, das mir Rätsel aufgibt. Kurz nachdem dich die Kugel getroffen hatte, wich sie nicht von deiner Seite. Sie blieb bei dir, bis ich mit der Kutsche zurückkehrte. Und dann saß sie die ganze Nacht an deinem Krankenlager.”
Christian zog seine ausdrucksvollen Brauen hoch. “Daran erinnere ich mich nicht.”
“Kein Wunder. Der verdammte Doktor hat dir Unmengen Laudanum verabreicht. Sobald abzusehen war, dass du demnächst dein Bewusstsein wiedererlangen würdest, verschwand sie. Seither kommt sie nicht mehr zu dir. Soviel ich weiß, erkundigt sie sich nicht einmal nach deinem Befinden.”
Christian enthielt sich eines Kommentars.
Nach einer Weile hob Giles seinen Blick vom gemusterten Teppich und sah seinen vollständig angekleideten Bruder aufstehen. “Willst du wieder am Familienleben teilnehmen?”
“Dieses Vergnügen muss ich mir vorerst versagen. Ich fahre für ein paar Tage nach London.”
“Großer Gott!” Giles bemühte sich nicht, seine Überraschung zu verhehlen. “Meinst du wirklich, du solltest so kurz nach …”
“Mein lieber Junge”, fiel Christian ihm sanft ins Wort, “es war nur ein Kratzer.”
“Diesmal!”
, betonte Giles voller Sorge. “Vielleicht hast du nächstes Mal nicht so viel Glück.”
“Also erwartest du, dass man wieder auf mich schießen wird?” Christian winkte ab. “Wahrscheinlich war es nur ein Unfall.”
“Das glaubst du doch selber nicht.”
“Nein”, gab Christian zu. “Seit einigen Tagen mache ich mir über eine gewisse Angelegenheit Gedanken … Aber solange ich keine genaueren Informationen habe, möchte ich nichts dazu sagen.”
“Fährst du deshalb in die Hauptstadt?”
Christian nickte. “Dort hoffe ich herauszufinden, was hier vorgeht.”
“Soll ich dich begleiten?”
“Nein, Giles. Wenn du daheim bleibst, kannst du mir viel besser helfen. Sieh während meiner Abwesenheit nach dem Rechten und erlaube den Damen auf keinen Fall, allein das Haus zu verlassen.” Irritiert runzelte Christian die Stirn. “Mein Mündel wird dir keine Schwierigkeiten machen. Aber Megan … Im Lauf der Jahre hat sie sich verändert, und sie kann sehr eigensinnig sein.”
Giles seufzte. “Um die Wahrheit zu gestehen – als ich sie an jenem Nachmittag aus dem Wald kommen sah, die verdammte Pistole in der Hand, und sie dann erklären hörte, sie würde nur selten ihr Ziel verfehlen, rann mir ein kalter Schauer über den Rücken.”
“Nun, sie hat nicht übertrieben. Ansonsten hätte sie mir ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Ich brachte ihr nämlich das Schießen bei. Trotzdem darfst du sie nicht verdächtigen. Megan würde sich niemals hinter einem Baum verstecken und auf jemanden feuern.”
“Das weiß ich mittlerweile auch”, gestand Giles beschämt.
“Außerdem würde sie einen Widersacher eher zum Duell fordern oder mit einem Pfeil erschrecken. Die kleine Meggie ist auch eine ausgezeichnete Bogenschützin. In dieser Kunst konnte ich sie niemals übertrumpfen.”
Nicht der Kosename gab Giles zu denken, sondern der gefühlvolle Tonfall. Zum ersten Mal seit Christians Rückkehr aus Indien beobachtete Giles, wie die harten Gesichtszüge milder wurden. “Du hattest Megan immer sehr gern, nicht wahr?”, fragte er leise.
“Gern?” wiederholte Christian spöttisch. “Mit diesem Wort lässt sich wohl kaum beschreiben, was ich für die wunderbare junge Dame empfinde. Warum sollte ich es dir nicht anvertrauen? Sie ist die einzige Frau, die ich je geliebt habe – und die ich jemals lieben werde.”
Mit einer solchen Antwort hatte Giles mehr oder weniger gerechnet. Trotzdem war er schockiert. “Als du England verlassen hast und jahrelang in Indien geblieben bist, dachte ich, du würdest versuchen, über den Tod deiner Frau hinwegzukommen.”
“Nein, Giles, ich ergriff die Flucht, weil mich in Moor House zu viele
Weitere Kostenlose Bücher